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Verlorene Träume

 

Frost überzog die Wiesen, doch Schnee war noch nicht gefallen. Stille hatte sich über den Wald gelegt. Nichts rührte sich in dem Geäst, nicht einmal ein Windhauch.

Langsam fiel ein Tropfen auf die Wiese. Rot rann er über die Grashalme und wusch den Reif hinunter. Ihm folgte weitere Flüssigkeit. Blut. Tropfen um Tropfen benetzte es die Wiese. 

Firra hielt sich eine Schnittwunde an ihrer Seite mit den Fingern zu, doch sie konnte nicht verhindern, dass die lebenswichtige Flüssigkeit aus ihr herausrann. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Finger waren blau vor Kälte. Kein Mantel zum Schutz gegen die Kälte, keine Stiefel, nur ein einfaches Hemd, eine Hose und ausgelaufene, löchrige Schuhe. 

Ihre Rüstung hatte sie in ihrer Gefangenschaft verloren. Nun war Firra auf der Flucht. Auf der Flucht vor den Soldaten des verfeindeten Königreiches. Auf der Flucht vor dem Schmerz und dem Tod auf dem Schlachtfeld. Doch vor allem auf der Flucht vor sich selbst. 

Im Schutze eines Baumes ließ Firra sich auf einen Haufen gefrorenes Laubes sinken. War die Kälte oder die Wunde schlimmer? Sollte sie ihr Hemd als Binde für ihre Wunde verwenden oder um die Kälte abzuhalten, die ihren Körper entlang kroch und langsam aber unerbittlich lähmte? 

Mit einem Mal hinterfragte Firra alles, was sie getan hatte, seit sie in das königliche Heer eingetreten war. Ruhm, Ehre und das Verlangen, etwas zu verändern, hatten sie angelockt. Und außerdem - es hatte ohnehin keinen anderen Ort gegeben, an den sie hätte gehen können. 

Und jetzt saß sie hier, unzählige überlebte Schlachten später, Schlachten, die gewonnen oder verloren worden waren, Schlachten, an denen sie Seite an Seite mit nun toten Kameraden und Freunden gefochten hatte, und verlor ihr eigenes Leben. Frostige, heiße Tränen liefen über Firras eisig kaltes Gesicht. Hier starb sie also. Starb, für einen König, den sie nicht einmal gekannt hatte. Starb, nicht weil sie ihre eigenen Ziele verfolgt und erreicht hatte, sondern weil ein König es ihr befohlen hatte. Ihr letzter Kampf war nicht einmal ehrenhaft gewesen. Stolz und Gier hatten einen König dazu getrieben, tausende Soldaten in einen sinnlosen Krieg zu senden. 

Menschen, die gestorben waren, für einen Zweck, den sie nicht verstanden und ein Ziel, das sie nicht unterstützten. Wieso? 

Firra begann noch stärker zu zittern und schlang die Arme um ihren Körper, zog die Beine an und versuchte, sich warm zu reiben. Es nützte nichts. 

Ihre Gefangenschaft nach einer Niederlage, ihre Flucht - wieso war sie überhaupt geflohen? Gab es denn noch etwas, für dass es sich lohnte, zu leben, etwas anderes als einen König, den sie nicht kannte und einen Krieg, in dem sie nicht kämpfen wollte? 

Das konnte doch nicht ihr Leben gewesen sein! Firra schüttelte den Kopf und versuchte sich an dem Baumstamm hochzuziehen, nur um wieder auf den Boden zu fallen. Verzweifelt legte sie den Kopf in den Nacken und schrie alle Enttäuschung und Verwirrung und Wut in die Winterluft hinaus, die Soldaten, die sie verfolgten, ignorierend. Doch nicht einmal ein Echo antwortete. Es war so kalt. Die Wunde schmerzte so sehr. 

Die Soldaten die sie suchten - wieso taten sie es? Leute, die zufällig auf einem anderen Streifen Land geboren worden waren und deshalb unter einer anderen Herrscherin standen, die ihnen Befehle gab wie Firra sie bekommen hatte. Das alles war so ungerecht und sinnlos, dass Firra übel wurde. 

Ihr Leben, geprägt von Leid, Schmerz und Verlust von etwas, dass sie nie gehabt hatte. Dinge, die sie nicht für sich selbst auf sich genommen hatte. Träume, das wovon die Menschen lebten, waren etwas, dass Firra sich selbst genommen hatte in dem Moment, in dem sie in die Armee des Königs eingetreten war. 

Was hätte sie werden können, wenn sie nur nicht sinnlosen Kriegen hinterhergejagt wäre? 

Sie würde es nie erfahren. Manchmal waren Träume nur Masken, unter denen sich nichts als Dunkelheit verbarg. Manchmal machte eine Entscheidung das ganze Leben zunichte. 

Firra lehnte den Kopf an den Baumstamm und spürte, wie ihr Herz, geschwächt von Blutverlust, Kälte und Verzweiflung immer langsamer schlug.

Manchmal, wenn ein Wanderer durch den Wald und die Wiese schritt, sollte er an diesem Baum vorbeikommen und still den Kopf neigen für jene, deren Träume nie die Chance gehabt hatten, zu leben zu kommen. 

 

Julia

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Kommentare: 1
  • #1

    Feanor (Sonntag, 06 November 2022 10:26)

    Schön geschrieben! Aber sehr traurig…