Regentropfen rannen die Straße hinab.
Graue und schwere Wolken hingen am dunklen Nachthimmel. Das stetige Trommeln von Wasser auf Beton untermalte die Kulisse ständig vorbeifahrender Autos, welche unter ihren Rädern die straßenhinabrennenden Sturzbäche aus Wasser aufwirbelten und sie durchnässten.
Die Arme wie einen Schutzschild vor die Brust gepresst, rannte sie durch den Regen. Ihre Kapuze wehte hinter ihr her, irgendwann hatte der Wind sie ihr vom Kopf gerissen und sie hatte nicht mehr die Kraft besessen, sie sich wieder überzuziehen. Ihr schwarzes Haar klebte vor Wasser in ihrer Stirn und behinderte ihre Sicht nach vorne. Sie wusste nicht, wie viele Passanten mit Regenschirmen, die ihr mit wütenden Stimmen nachriefen, sie anrempelte. Sie wusste nicht, wohin sie rannte.
Sie wusste gar nichts mehr.
Irgendwann musste sie stehen bleiben. Sie blinzelte die Regentropfen weg, die sich in ihren Wimpern verfangen hatten, und blickte sich um. Eine schmale, schwarze Gasse ohne richtigen Bürgersteig, durch die nur wenige Autos fuhren. Zitternd ließ sie sich an einer Hauswand hinabgleiten und blieb bewegungslos halb auf der Straße liegen.
Später würde sie nicht mehr wissen, ob sie bemerkt hatte, in welcher Gefahr vor Autos sie sich befand, oder ob es ihr schlicht egal gewesen war. Sie wollte es auch gar nicht wissen.
Regen und Nässe krochen unter ihren dünnen Mantel und der Wind peitschte ihr die Tropfen wie Nadelstiche ins Gesicht. Wasser rann ihren Nacken hinab und durchweichte ihre Kleidung, machte sie klamm und kalt.
Langsam rollte sie sich zusammen, zitternd, doch ihr wurde nicht wärmer.
Tränen liefen ihre Wangen hinab wie Regentropfen.
Auf der großen Straße, die sie soeben verlassen hatte, zog der Verkehr stetig vorüber. Menschenmengen mit Regenschirmen und Taschen, deren einziges Ziel war, nach Hause zu kommen, eilten vorbei. Niemand beachtete die junge Frau am Straßenrand und ihre stummen, verzweifelten Hilferufe, die sie mit ihrem Elend in die Welt hinaus sandte. Es war ohnehin egal. Alles war egal. Leben und Tod waren egal.
Manche der Menschen sahen sie. Dann blickten sie wieder weg, als wäre sie ein Stein. Ein einzelner, einsamer, verlassener, langweiliger, unwichtiger Stein. Ein Gegenstand, den man im Leben so oft sah, dass er verlor, was ihn als etwas Nennenswertes auszeichnete.
In gewisser Weise hatte sie genau das verloren. Einen Sinn zu leben und das, wofür die anderen Menschen einen akzeptierten. Es gab gewisse Dinge, die einen Mensch als einen solchen auszeichneten. Und dann gab es die Dinge, ohne die die Gesellschaft der Menschen einen der ihren nicht mehr als solchen akzeptierte und ausschloss.
Dann, wenn man nur noch eine Last war, etwas womit man sich nicht befasste. Manche blickten bewusst weg. Andere taten es unbewusst. Einerlei. Niemand würde kommen und ihr helfen. Sie brauchte keine Hilfe. Sie konnte sich selbst helfen.
Aber je länger sie im Regen lag, desto klarer wurde ihr, dass sie sich damit selbst belog. Sie konnte sich nicht helfen. Niemand konnte sich immer nur auf sich selbst verlassen, so sehr man es auch wollte. Irgendwann kam der Moment, in dem ein Mensch nicht mehr weiterwusste. In dem er gefangen war zwischen der Furcht, das zu tun, was richtig war, und dem Begehren, das zu tun, was einfach war. Und wenn man alles verloren hatte, dann waren diese Dinge einerlei. Dann gab es nur noch eine Wahl: die, ob man weiterleben konnte oder nicht.
Jeder brauchte irgendwann einmal Hilfe. Aber wenn man keine bekam, wie machte man dann weiter? Kälte, Nässe, Straßenlärm und die alles verpestenden Abgase drohten sie zu ertränken. Ihr Körper war eine einzige Last, auf den alle Sinneseindrücke einprasselten ohne dass sie etwas damit anfangen konnte. Denn ihr Lebenswille war erloschen. Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Die Kälte schien sie sowohl von außen als auch von innen aufzuzehren, bis nichts mehr übrig war außer dem leeren Loch, das ihre Seele darstellte. Sie musste sich dagegen wehren. Aber es gab keinen Grund mehr, warum sie das jetzt noch tun sollte. Ihre ganzen Ziele waren von Asche begraben, ihr einziges Selbst von Steinen verschüttet und diejenigen, die ihr einst etwas bedeutet hatten, hatte der Regen weggewaschen und es blieb nichts, als der Nebel am Morgen, der verschwand, sobald die Sonne kam, um ihn zu begrüßen.
Es gab nichts mehr, woran es sich festzuhalten lohnte. Und so lag sie weiter da.
Regentropfen rannen die Straße hinab.
Julia
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Magnus (Freitag, 04 März 2022 14:34)
Ich mag deine Geschichten, die sind immer sehr gut, mach mir aber Sorgen um die Hauptcharakter. Dafür hast du einen Schönen schreibstiel!
Julia (Autorin) (Freitag, 04 März 2022 14:57)
@Magnus Danke! Ich mag es einfach, meine Hauptcharaktere ein wenig zu quälen…
Angelika (Freitag, 04 März 2022 15:19)
Bewegend. Und traurig…
Magnus (Freitag, 04 März 2022 17:44)
@Julia man merkt es. Macht die Geschichten noch besser. Weiter so!