Entführt Teil 2

„Dich kenne ich doch irgendwoher…“ Eine nachdenkliche Stimme drang an sein Ohr. Er schlug die Augen auf. Um ihn herum Dunkelheit. Nur durch einen kleinen Spalt in der Decke fiel etwas Licht in den Schacht hinab und warf einen spärlichen Schein auf die Person, die vor ihm auf dem kalten Steinboden hockte.

Für einen Moment hielt er völlig überrascht die Luft an. Er hatte zwar keine Ahnung, wo und warum er sich hier in diesem Kerker befand, aber er war der festen Überzeugung dieses Mädchen irgendwoher zu kennen. Ihre halblangen kastanienbraunen Haare, die geheimnisvoll schimmernden, smaragdgrünen Augen und die feinen Sommersprossen auf ihrer Nasenspitze, die selbst in diesen schlechten Lichtverhältnissen gut auszumachen waren.

„Alles okay?“, fragte sie mit weicher Stimme. Und lehnte sich besorgt zu ihm vor.

„W… Was ist passiert? Wo sind wir hier?“ Stotternd kamen die Worte über seine ausgetrockneten Lippen. Wie lange er wohl schon hier unten lag? Erschöpft lehnte er sich gegen die steinerne Mauer hinter ihm.

„Diese Männer, sie haben mich - und dich offensichtlich auch - nach der Party geschnappt und hierher gebracht. Mehr weiß ich auch nicht.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und musterte ihn interessiert.

Richtig, die Party. Sie was DAS Mädchen. Das Mädchen, das ihn so fasziniert hatte. Mit ihren smaragdgrünen Augen. Irgendwie hatte er sich ihr Wiedersehen ganz anders vorgestellt. Nicht in einem dunklen und kalten Verschlag, entführt von seltsamen Leuten ohne Tatmotiv.

„Wie sollen wir hier wieder rauskommen?!“ Seine anfängliche Verwirrung wandelte sich langsam aber sicher in Panik.

Doch sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Vielleicht gar nicht.“

Das konnte ihr doch nicht einfach so egal sein! „Was, wenn wir verhungern?!“

„Was wäre dann?“ Etwas Herausforderndes lag in ihrer Stimme und die grünen Augen blitzten.

„Dann…“ Er stockte, wusste nicht, wie er mit ihrer Reaktion umgehen sollte. „Dann sterben wir!“ Verzweifelt kralle er die Hände um seine Schultern und spürte, wie sich heiße Tränen in seinen Augen bildeten.

„Sterben… Es klingt so schrecklich, wie du es sagst… Dabei ist es ganz natürlich, wir alle sterben irgendwann.“ Sie hob die Augenbrauen, als sei sie verwirrt von seiner emotionalen Reaktion angesichts ihrer ungewissen Zukunft.

Perplex starrte er sie an. „Ich… Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns!“ Er hatte es eindeutig mit einer Verrückten zu tun. Mit einer ziemlich gutaussehenden Verrückten…

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, näherte sie sich ihm langsam und machte Anstalten ihn zu küssen. Er sprang auf und hielt reflexartig die Hände vor seinen Körper, als wolle er sich vor einem Raubtier schützen. Was war das hier nur? Alles schien so surreal, so unecht, so seltsam. Sie verhielt sich einfach irrational. Eingesperrt in einem Kerker ohne Aussicht auf Befreiung schien das Verlangen nach körperlicher Nähe das Einzige zu sein, was sie interessierte.

„Stop…“ Die Worte kamen leise über seine Lippen, doch er sah, wie sie zusammenzuckte. Ungelenkig erhob sie sich vom Boden und machte einen bestimmten Schritt auf ihn zu.

„Wovor hast du Angst?“, hauchte sie zuckersüß.

Ohne auf die Frage zu achten, schob er sie von sich weg. „Stop!“ Seine Stimme wurde lauter. Er legte all seine Angst und Verzweiflung hinein. „Ich will, dass das aufhört!“ Es war zu einem verzerrten Schrei geworden.

Plötzlich verschwamm die Umgebung um ihn herum. Er sah nur noch die Augen, die smaragdgrünen Augen, die immer weiter herankamen. Sie funkelten im schwachen Licht und sein Kopf begann zu dröhnen. Ein unerträgliches Pfeifen mischte sich in die kalte Ruhe des Kerkers. Er schrei. Seine Schreie hallten von den Wänden wieder, die auf ihn zuzukommen schienen. Blanke Panik breitete sich in ihm aus. Dann wurde es still. Gespenstig still.

 

Das Erste, dass an seine Ohren drang, war Straßenlärm. Langsam öffnete er seine Augen. Gleißendes Licht überflutete ihn. Wo war er? Definitiv nicht im Kerker. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Seine Umgebung wirkte warm und vertraut.

„Die Stadt!“ Freudig rappelte er sich auf. Er hatte in einer Seitengasse gelegen. Aber warum war er nichtmehr im Kerker? Was war passiert. Er konnte sich nur noch an die Party erinnern. Und, dass jemand ihn entführt hatte. Womöglich das Mädchen…

Aber das war jetzt egal. Er konnte gehen, wohin er wollte und wurde nicht von kalten Mauern festgehalten. Glück strömte durch seinen Körper. Er fühlte sich so unglaublich energiegeladen. Er war frei.

 

Jale 24.04.2020