Sklaven der Uhr

„Können Sie mir sagen, wann die Sonne untergeht?“
„Einen Moment, bitte. Lassen Sie mich meine Sonnenuntergangs-App checken. Da hätten wir’s : 17:07 Uhr.“
„Danke.“

 

 

Was fange ich jetzt damit an? Ich habe eine Zeit, eine Uhrzeit. Um 11:25 Uhr treffe ich mich zur Informatik-Konferenz auf Big Blue Button. Um 12:05 Uhr ist dann Englisch an der Reihe. Wenn ich dazwischen fünf Minuten Zeit habe, kann ich vielleicht kurz etwas schreiben. Mit dem einen Problem, dass ich ohne Uhr nie wüsste, wann die nächste Konferenz beginnt.

 

 

Wir sind Sklaven der Uhr. Was sind schon fünf Minuten? Der Tag wird definiert als 24 Stunden. Lichtverhältnisse spielen dabei keine Rolle. Der Tag beginnt mitten in der Nacht und endet mitten in der Nacht. Am ersten Februar geht die Sonne – laut Google – um 17:24 Uhr unter und geht am nächsten Morgen um 07:57 Uhr auf. 14 Stunden und 33 Minuten Dunkelheit. Und Mitternacht liegt nicht einmal in der Mitte.
In jeder Stunde sind 60 Minuten, in jeder Minute 60 Sekunden. Und wie lang ist eine Sekunde? 1000 Millisekunden?

 

 

Zeit ist relativ. Wenn ich vom Pferd falle, spielen sich manche Momente langsam von meinen Augen ab. Dann hänge ich für den Bruchteil einer Sekunde seitwärts im Sattel und entscheide mich, loszulassen. Mein Gehirn hat vorher in Rekordgeschwindigkeit die Vor- und Nachteile aufgezählt und einen Entschluss gefasst. Vielleicht sollte ich meine Deutscharbeiten immer seitwärts im Sattel schreiben. Sobald ich auf dem Boden ankomme ändert sich mein Zeitgefühl. Ich bekomme nicht mehr mit, wie ich über jeden Entschluss meines Körpers entscheide. Ich stehe auf und klopfe mir den Sand von den Hosen. Eine automatische Reaktion.
Ereignis nicht erfunden.

 

 

Ich habe um eins einen Termin. Für den Hinweg brauche ich zehn Minuten. Ich plane fünf Minuten Puffer ein, plus drei Minuten, um meine Jacke anzuziehen, meine Schuhe zu finden und dem Hund zu erklären, dass er nicht mit darf. Immer wieder auf die Uhr zu schauen ist mittlerweile so natürlich, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken. Vor dreitausend Jahren hätte ich vielleicht den Stand der Sonne betrachtet, oder welche Sterne am Himmel stehen. Wenn ich die Venus sehe, weiß ich, dass es bald wieder hell wird. Heute schaue ich einfach auf dieses Ding an meinem Handgelenk – oder noch besser, dieses Flache Dings, das schlaue Telephon – und checke meine Sonnenuntergangs-App. Irgendwie traurig. Wir hetzen von einem Termin zum nächsten, ohne auszuruhen.
Manche Vertreter unserer höchst intelligenten Spezies Homo sapiens haben ihren Tag auf die Minute genau durchgeplant. Sie sind willentlich Sklaven der Uhr. Wieso bloß?

 

 

Natürlich hat eine geregelte Zeitrechnung auch Vorteile. Sie erlaubt uns Termine genau zu timen. Aber irgendwie… jeden Tag müssen wir dann und dann etwas machen. Zweimal im Jahr werden alle Uhren um eine Stunde verstellt. Kann ich mich vielleicht mal zwei Stunden einfach irgendwo hinhocken und einfach nichts machen? Dabei habe ich mich schon wieder auf einen Zeitraum beschränkt. Ich blicke dauernd auf die Uhr, wohl wissend, dass ich in zwei Stunden die nächste Konferenz habe. Ich habe die Ketten der Uhrzeit wohl doch nicht abgeschüttelt.

 

 

Wir sind Sklaven der Uhr. Unser Leben dreht sich darum, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Unsere Gesellschaft lässt uns keine andere Wahl. Aber wenn die Konferenzen vorbei sind, die Hausaufgaben mehr oder weniger erledigt, dann werde ich die Ketten abstreifen und in den Wald gehen. Der Hund wird sich freuen. Dort bleiben wir dann, bis wir keinen Bock mehr haben. Eine geflohene Sklavin und ihr Hund.
Und irgendwann schleichen wir uns zurück. Schweigend werde ich mir Ketten wieder anstreifen und mein Leben weiterleben. Es gibt schlimmere Sklaventreiber als die Uhr.

 

 

So stehe ich also im Wald. Der Wind reißt an meinen Kleidern, mein Haar fliegt wie ein Banner der Freiheit hinter mir her. Und in der Ferne tönen sanft die Kirchenglocken zu mir auf. Sie verkünden die Uhrzeit …

 

Hannah 22.01.2021