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Risse in dir

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Sie lag in meinen Armen. Auf der Couch in meinem Zimmer. Ich strich über ihren Arm und hielt sie so fest ich konnte. Meine Schulter war nass von ihren Tränen. Sie hatte ihren Kopf in meinem Nacken vergraben, schluchzend, zitternd. Ihr Make-Up war zu einem schwarzen Fluss auf ihren Wangen geworden. Wir schwiegen, doch ich wollte das Schweigen nicht brechen. Was sollte ich denn auch sagen? Dass alles wieder gut werden würde? Noch vor einer Stunde hätte sie beinahe ihrem Leben ein Ende gesetzt. Doch ich war noch rechtzeitig gekommen. Sie war schon im blutigen Wasser der Badewanne gelegen. Die Ärmel ihres blauen Hoodies, der nun mit Blut durchtränkt und lila verfärbt war, waren hochgekrempelt. Darunter kamen die langen, tiefen Risse in ihrer Haut zum Vorschein, die ihr beinahe das Leben gekostet hätten. Mit jedem Schlag ihres immer schwächer werden Herzens strömte weiteres Blut aus den Rissen, die bis zu Pulsadern reichten. Aber es war noch nicht zu spät. Ich zog sie aus dem Blutbad der Schlacht, die in ihr vorging. Unter Tränen verband ich ihre Wunden, wollte einen Notarzt rufen, aber sie verbot es mir. Jetzt waren wir eng umschlungen und so nah wie noch nie zuvor. Doch ich konnte diese Vertrautheit nicht genießen. Zu sehr war ich gefangen in meinen Sorgen um sie. Meine Finger strichen über den Verband auf ihrer immer noch kreidebleichen Haut. Ich fuhr an ihrem Arm entlang zu ihrer Hand und ergriff diese. Ich musste ihr Halt geben, denn sonst würde sie wieder tief in die Schlucht ihrer Ängste fallen.

Irgendwie musste ich sie durch diese Nacht bringen. Bis die Sonne wieder aufgehen und das Licht die Dunkelheit und Verzweiflung in ihr verdrängen würde. Selbst, wenn es nur für die Dauer eines Tages war. Selbst, wenn der Kampf in ihr nur so lange verstummen würde, bis die Sonne wieder hinter dem Horizont verschwand. Sie würde sich niemals dafür bedanken, dass ich ihr Leben gerettet hatte. Aber sie war mir auch nicht böse, denn mein Handeln war zutiefst menschlich gewesen. Jeder Mensch, der noch in den Spiegel sehen und kein Moster darin erkennen wollte, hätte genau dasselbe getan wie ich. Aber war es deshalb richtig gewesen?

War es richtig ihr Leben, welches für sie nur noch aus Leid bestand, zu verlängern? Dieser Gedanke ließ mich nicht los. Obwohl er doch eigentlich sinnlos war. Denn die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern, obwohl ich das so gerne täte. Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen. Ich horchte auf. Das Schluchzen und Wimmern hatte aufgehört. Ihre Hand war eiskalt und ihr Atem so schwach, dass ich ihn kaum noch wahrnehmen konnte. Ich griff nach einer Decke und legte sie um ihre Schulter. Doch sie stieß sie, mit der wenigen Kraft, die noch in ihr war, von sich. Sie wollte keine Wärme spüren, denn die erinnerte sie an Liebe, ein Gefühl, das sie verlernt hatte. In der Kälte und Einsamkeit fühlte sie sich wohl. Wie ein Vampir lebte sie in der Nacht, mied den Tag und das Sonnenlicht. Ihr Verband war schon vollkommen mit der roten Flüssigkeit durchtränkt und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es stetig mehr wurde. War denn überhaupt noch Blut in ihren Adern? So langsam war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich strich über ihre eiskalte, fast schon schneeweiße Haut, lege meine Hand auf ihre Blust und spüre ihr Herz schlagen, aber nur ganz schwach. Sie hatte ihre Augen geschlossen, immer noch zitternd. Ich sah sie an und erschrak. Wie konnte es nur sein, dass ich übersehen hatte, was in der letzten Stunde geschehen war? Wie hatte ich nur auf sie hören und keinen Arzt rufen können? Wo es doch offensichtlich war, dass sie diese Nacht nicht überleben konnte. Nicht in diesem Zustand. Doch das war es ja, was sie wollte, sterben. Schlagartig wurde mir klar, was ich tun musste, selbst, wenn es gegen ihren Willen war. Ich ließ sie los und legte sie auf das Sofa. Sie flüsterte noch" Warte! Wohin gehst du?" Aber ich war schon aufgestanden und steuerte in großen Schritten auf die Tür zu. Schon war ich im Flur, ein paar Schritte weiter in der Küche und einige Momente später stand ich vor der Anrichte, wo das Telefon stand. Hektisch griff ich danach. Schon hatte ich die Nummer eingegeben, sie lautete 112. Ein paar Sekunden später nahm ich eine ruhige Männerstimme wahr, die aus dem Lautsprecher des Telefons heraus irgendwelche Fragen stellte, ich stammelte meine Adresse, er merkte in meiner Stimme, wie unruhig und panisch ich war, versuchte mich zu beruhigen, doch es war zwecklos. Bereits nach ein paar Sätzen nahm ich seine Worte nur noch gedämpft war. Als würde der Lautsprecher nicht direkt neben meinem Ohr, sondern am anderen Ende der Küche sein. Denn plötzlich überkam mich ein schreckliches Gefühl, ein Ziehen in meinem Bauch, das so stark war, dass mir das Telefon entglitt und polternd auf dem Boden aufprallte.

Ich schrie auf und rannte nach oben. Es war wie ein Instinkt, der mich die Treppenstufen hinauf und zurück in mein Zimmer, zu ihr, führte. Ich stieß die Tür auf und stolperte zu dem Sofa, wo sie immernoch lag. Eine Haarsträhne war ihr ins Gesicht gefallen, ich strich sie hinter ihr Ohr. Sie reagierte nicht. Meine Hand fuhr an ihrem Gesicht entlang zu ihrem Hals, wo ich meine Finger an ihre Halsschlagader legte. Doch ich spürte kein Pochen. "Nein, das kann nicht sein!", dachte ich. Ich drückte meine Hand auf ihre Brust, doch fühlte nichts. Ich begann zu begreifen, was in den wenigen Minuten, in denen ich unten war, geschehen war. Meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen, die auf ihre erstarrten Wangen tropften. Meine Hände suchten die ihren und hielten diese fest. Ich gab ihr einen letzten Kuss auf die Wange.

Sie war gegangen.

 

Hedy


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