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Roter Schnee - Perspektive 2

Lesezeit: 7 Minuten;

Triggerwarnung: Suizid
Wir saßen nebeneinander, es war die 4. Stunde. Wir hatten Mathe bei unserem Hasslehrer, Herr Schwarz. Er zeichnete gerade irgendwelche x, a und y an die Tafel und führte seinen totlangweiligen Monolog über ebendiese Variablen, dem ich versuchte zu folgen: Mein Kopf qualmte und mein Stift ratterte über das karierte Blatt Papier, das ich vor mir liegen hatte, auf dem irgendwelche Gleichungen und Rechenwege standen, obwohl ich noch nicht einmal verstand, wie diese Zahlen, mit denen ich gerade rechnete, zustande gekommen waren. Meine Augen schweiften auf ihr Blatt. Es war anders als meines kein Dschungel von Symbolen aus schwarzer Tinte. Stattdessen war es kahl und so weiß wie eine Winterlandschaft. Ihre Stifte lagen unangetastet auf ihrem Platz verstreut. Ihre Hände waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Gesicht zu verbergen. Ich löste meine Hand von meinem Füller und strich über ihren Arm. Sie gab durch eine Lücke zwischen ihren Fingerspitzen ihr Gesicht preis. Die müden Augen waren errötet und sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Eine Hand löste sich von ihrer Stirn und sie hob den Arm.

„Ja", rief sie unser Lehrer mit seiner lauten, bestimmenden Stimme auf. „Kann ich zur Toilette?"

Ihre Stimme klang erschöpft. „Ich weiß nicht ob du kannst, aber ich gebe dir die Erlaubnis, es zumindest zu versuchen." Seine krächzende Rabenstimme tat in meinen Ohren weh. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem selbstherrlichen Grinsen. So wie es aussah, lachte er sogar über seine eigene Bemerkung. Ich verdrehe nur die Augen. Sie schien es gar nicht mitgekriegt zu haben, so krampfhaft versuchte sie ihre Tränen zu unterdrücken.

Meine Sitznachbarin erhob sich von ihrem Stuhl, schleppte sich duch den Gang zwischen den Pulten und verschwand durch die Tür des Klassensaals.

Ich wäre gerne mit ihr gegangen und hätte sie getröstet, aber in solchen Momenten wollte meine beste Freundin lieber alleine sein. Minute um Minute verstrich, aber sie kam einfach nicht. Ich konnte zwar verstehen, dass sie dieser Folter namens Matheunterricht so lange wie möglich fern bleiben wollte, aber so lange fernzubleiben, war selbst für sie ungewöhnlich. Mit der Zeit machte sich in mir ein seltsames Gefühl breit. Ein unangenehmes Ziehen im Bauch, das immer stärker wurde. Schon nahm mich diese Mischung aus Ungeduld und Sorge vollkommen ein. Mein ganzer Magen zog sich zusammen, es war, als würde mir jemand in den Bauch boxen. Wann würde diese Stunde endlich zu Ende gehen? Ich sah auf die Uhr.

Nur noch zwei Minuten. Das musste ich doch noch aushalten. Beunruhigt sah ich auf die Zeiger, die sich irgendwie nicht schneller bewegen wollten. Ich hielt noch die letzten qualvollen Minuten durch, bis der Gong mich endlich erlöste, ich meinen Stift beiseite warf, meine Jacke schnappte und nach draußen hastete. Es zog mich sofort in den Pausenhof, wo wir unseren festen Treffpunkt an einer der Tischtennisplatten hatten. Ich rannte durch die überfüllten Gänge unserer Schule, vorbei an Spinten, Klassenkameraden und Oberstufenschülern, die Bücher durch die Gegend schleppten. Schon war ich an der großen Glastür angelangt und drückte die metallene Klinge nach unten.

Kalter Wind empfing mich und ein paar Schneeflocken flogen mir ins Gesicht. Vor mir lag ein von weißem Puderzucker bedeckter Pausenhof. Normalerweise hätte ich mich über diese Winterlandschaft gefreut und die fallenden Flocken beobachtet. Aber mir war nicht danach zumute. Zu sehr war ich von diesem bedrückenden Gefühl eingenommen, das mir sagte, dass etwas nicht stimmte. Mein Blick schweifte über den Hof und blieb bei einer großen Menschentraube am anderen Ende stehen. Als würde ein Instinkt mich steuern, rannte ich sofort zu meinen Mitschülern, die dicht an dicht standen um einen Blick auf irgendetwas zu erhaschen.

Meine Beine trugen mich ganz von alleine dorthin, als hätte eine fremde Macht über mich Besitz ergriffen.

Nach kurzer Zeit war ich bei ihnen angekommen, reckte und streckte mich, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit band, doch ich bekam nur Mützen in den unterschiedlichsten Farben zu Gesicht. Also quetschte ich mich durch sämtliche Daunenjacken hindurch, seltsamerweise beschwerte sich niemand und manche wichen mir sogar aus.

Schon war ich vorne angekommen und erschrak. Voller Entsetzen stand ich bewegungsunfähig da, als wäre ich zu Eis erstarrt.

Sie lag im Schnee, bewusstlos. Sie lag zwar auf dem Bauch, aber ich erkannte sie sofort. An ihrem Kopf fiel mir direkt die große Wunde auf, aus der Blut strömte und den Schnee rot färbte. Meine Knie gaben nach, ich ließ mich auf sie fallen, hielt meine Finger an ihren Hals und versuchte, ihren Puls zu spüren; er war schwach, aber ihr Herz schlug noch. Ich ergriff ihre Hand und hielt sie so fest ich konnte. Sie versuchte die meine ebenfalls festzuhalten.

Ihre Finger füllten sich mit der wenigen Energie, die noch in ihr war, ihre Fingerspitzen bewegten sich ein paar Millimeter in meine Richtung, aber sie war zu schwach, um die meine zu umschließen. In der Ferne nahm ich ein schrilles Geräusch war, schon bald bemerkte ich, dass es die Sirenen eines Krankenwagens waren, der immer näher kam. Wer hatte ihn gerufen? Sie durften ihr Leben nicht retten, sie wollte doch sterben, wie konnte man das nicht begreifen? Sie hatte sich doch selbst dazu entschieden. Aber irgendwie verstand ich es doch, ich hatte ihren Wunsch am Anfang auch nicht akzeptieren wollen. Schon parkte der Wagen mit den blauen Lichtern auf dem Dach auf dem Pausenhof, nur ein paar Meter von uns entfernt.

Die Tür öffnete sich und schon sprang ein Mann mit einem Rucksack heraus, der „Aus dem Weg!" schrie. Sofort wichen ihm die Schülerschaaren unter Getuschel aus und ein paar Lehrer, die gerade aus dem Gebäude gesprintet waren, führten sie ins Schulhaus. Nur der Arzt, zwei Sanitäter, die nun auch ausgestiegen waren und ich blieben bei ihr. Er drehte sie auf den Rücken, legte seinen Rucksack im knirschenden Schnee ab und öffnete mit einem lauten Ratschen den Reißverschluss. In der Tasche kamen Fläschchen, die mit irgendwelchen Flüssigkeiten gefüllt waren, Verbände und Spritzen zum Vorschein. Schon montierte er eine dieser Sprizen auf eine metallene Nadel und steckte diese in ein Fläschchen. Die glasklare Flüssigkeit stieg in das kleine Gefäß auf und schon war er im Begriff, die eiserne Nadel durch ihre Haut zu stechen. Ich packte ihn am Arm und wollte sie ihm entreißen, doch er stieß meine Hand von sich und schon durchbohrte das Metall ihre Haut. Ich spürte, wie sie das quälte und auch ich hatte das Gefühl, dass mich gerade Metall durchbohren und mich mit einer kalten Flüssigkeit füllen würde. Ich strich mir über den Arm um mich zu vergewissern, dass nicht wirklich eine Spritze in mir steckte. Er zog sie wieder heraus und ich verspürte einen kleinen Funken Erleichterung. Doch dieses Gefühl weilte nur kurz. Er war bereits im Begriff, ihr das nächste Mittel zu verabreichen, aber ich stieß ihm das kleine Glasfläschchen aus der Hand und es landete im Schnee. Ich packe ihn am Handgelenk und schrie ihn an. „Hören Sie mir endlich zu!", meine Kehle brannte, so laut kreischte ich. Erschrocken wandte er mir seinen Blick zu. „Sie will nicht gerettet werden, sie will sterben. Sie hat sich selbst vom Dach gestürzt, das war kein Unfall. Sie verlängern nur ihr Leid, wenn sie versuchen, sie zu retten. Lassen sie sie gehen!" Tränen überströmten meine kühlen Wangen. Ich sah, wie tief bestürzt er über meine Worte war, dann gab der ein leises „Ich verstehe", von sich. „Wenn das ihr Wunsch ist, akzeptiere ich ihn. Aber ich darf nicht einfach nichts tun, das wäre unterlassene Hilfeleistung. Ich werde ihr Morphium geben, um ihre Schmerzen zu lindern." Schon stach er eine weitere Nadel durch sie hindurch. Doch diesmal litt sie nicht darunter. Sie schien eher dankbar zu sein. „Ihr Herz schlägt kaum noch, es wird nicht mehr lange dauern." Man merkte in seiner Stimme noch immer das Entsetzten darüber, dass ein so junger Mensch keinen Sinn mehr im Leben sah. „Kann ich alleine mit ihr sein, wenn sie geht?" Meine Worte fühlten sich so an, als wären sie ganz weit weg und ich konnte kaum begreifen, dass ich sie wirklich gesagt hatte.

Er nickte nur, dann führte er die Sanitäter ein paar Meter von uns weg. Ich ergriff sofort ihre Hand, umschlang sie förmlich mit der meinen. Dann lehnte ich mich so weit vor, dass meine Lippen kurz vor ihrem Ohr waren und flüsterte: „ Es ist ok. Du darfst

gehen." mit meiner vor Kälte zitternden Stimme. Ich merkte, wie sie endlich ihren Frieden finden konnte. Dann atmete sie das letzte Mal aus.


Hedy


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