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Roter Schnee - Perspektive 1

Lesezeit: 5 Minuten;

Triggerwarnung: Suizid
Ich schaue aus dem Fenster, das einzige das ich sehe ist der schneebedeckte Asphalt des Pausenhofes. Mein Blick schweift zurück auf das Blatt das vor mir liegt. In der oberen Ecke steht mein Name und das heutige Datum. Es ist der 14. 01. 2023. Eigentlich ist das ein Datum wie jedes andere auch, doch tief in mir ist dieses Gefühl. Ein Gefühl das sich durch mich hindurch frisst. Von meinem Herz bis in meinen Kopf. Ich kann dieses Gefühl nicht deuten, ich kann es nicht zuordnen, ich weiß nur dass ich ihm gehorchen muss. Das ich ihm gehorchen werde. Ich hebe meine Hand. Meine vernarbte Haut schmerzt. Nun steht meine Lehrerin vor mir, sie lächelt mich an und nickt als ich sie bitte, auf die Toilette zu dürfen. Langsam löse ich mich von meinem Platz, ich muss mich an den Tischen entlanghangeln, um nicht zusammenzusacken. Niemand bemerkt es. Als ich die Klassenzimmertür hinter mir verschließe scheinen meine Beine ein wenig Kraft zu erlangen. Ich stütze mich nur kurz an der Wand ab. Zu den Toilette geht es nach rechts, doch ich laufe nach links. Ich öffne die Tür zum Treppenhaus.

Jeder Schritt auf den weiß gefließten Stufen schallt. Ich stütze mich wieder am kalten Geländer und schleife mich 2 Stockwerke nach oben, bis ich die große 4 auf der Wand lesen kann. Noch 10 Stufen, dann habe ich die Tür zum Dach erreicht. Meine zitternde Hand umschließt den Türgriff. Ich zögere. Ist es das richtige was ich tue? Will ich das wirklich? Werde ich es diesmal schaffen?

Ja! Das ist meine einzige Möglichkeit, diesen Dämonen zu entkommen. Ich kann ihre Last auf meinen Schultern nicht mehr ertragen. Ich will, dass sie verstummen. Zu lange habe ich mich gequält. Zu lange habe ich gekämpft.

Mit einem leisen Klick öffnet sich die Tür. Mir strömt eine eisige Briese entgegen, aus kalten feuchten Schneeflocken. Früher habe ich Schnee geliebt, ich habe mit offenem Mund darunter getanzt und versucht, die Flocken zu fangen. Doch dafür bin ich zu müde. Zu erschöpft. Ich stelle mich direkt an die Kante. Ich kann über die gesamte Stadt blicken. Sämtliche Kinder strahlen vermutlich gerade bei diesem Anblick, doch mein Blick ist trüb. Ich schaue auf mein Handy, es ist 10.59 Uhr; in einer Minute wird es zur Pause läuten. Ich schließe meine tränenunterlaufenen Augen, breite meine Arme aus und mache einen Schritt nach vorne. Ich spüre nichts bis auf den Wind. Es ist ein wunderschönes Gefühl. Ein Gefühl von Freiheit, von Sorglosigkeit. Doch es hält nicht lange. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckt meinen Körper und alles um mich herum wird schwarz. Meine Ohren dröhnen, ein unglaublich lautes schrilles Geräusch.

Finger drücken auf meinen Hals, jemanden versucht meinen Puls zu spüren. Ich fühle mich wie aus einem Albtraum erwacht.

In der Ferne höre ich Stimmen, alles dringt nur wie durch eine dicke Mauer zu mir. Mein Kopf schmerzt so unglaublich, dass ich mich nicht bewegen kann, ich bin wie gelähmt. Ich spüre, dass sich eine Person neben mich setzt und im gleichen Moment wird meine Hand von einer anderen umschloßen. Ich kann sie nicht sehen, aber weiß sofort, dass es meine beste Freundin ist. Ich versuche, genügend Kraft aufzubringen, um mit meinen Fingen ihre zu umschließen, doch ich kann sie nicht bewegen. Von weit her kommen dumpfe Geräusche von Sirenen. Ich habe Angst. So unglaublich große Angst. Ich friere. Noch nie in meinem Leben habe ich so eine Kälte gespürt. Die Wärme, die ihre Hand ausstrahlt, ist wie ein Kerzenschimmer in tiefer Dunkelheit.

Mein Herz versucht sich daran festzuhalten, doch mein Kopf will alles loslassen, alles vergessen. Stimmen nähern sich. Eine davon ist nun ganz dicht an meinem Ohr. Es ist die eines Mannes, er sagt er wäre Notarzt. Ich spüre, wie mich jemand auf den Rücken dreht, langsam und doch für mich fast unerträglich. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er sich drehen. Jemand drückt mit etwas darauf. Sie scheinen eine Blutung stillen zu wollen, ich will, dass sie das lassen.

Warum darf ich nicht gehen? Ich habe es bereits zweimal versucht. Ich habe es bereits zweimal versucht. Das erste mal hatte mich meine beste Freundin in der Badewanne gefunden. Ich hatte zuvor Schlafabletten genommen, doch sie rief einen Krankenwagen, die Sanitäter zogen meinen bläulich angelaufenen Körper aus dem Wasser. Sie mussten mich wiederbeleben, danach wickelten sie mich in Heizdecken und brachten mich ins Krankenhaus. Das zweite mal hatte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten, doch auch hier wurde ich zu früh gefunden. Sie steckten mich nach meinem zweiten Krankenhausaufenthalt in eine Psychatrie, sie haben mich nie aus dem Auge gelassen. Egal wo ich war, überall ging jemand mit. Nach einigen Wochen schaffte ich es ihnen vorzuspielen, mir ginge es besser, doch der Schmerz tief in mir war noch groß. Ich versuchte zu leben, versuchte zu überleben. Meinen Eltern zuliebe. Der Schmerz in ihren Augen, als die Sanitäter mich auf einer Liege hinausschoben, hatte sich auf meiner Netzhaut eingebrannt. Deshalb hatte ich mich entschieden, all das an einem Ort zu beenden, an dem sie mich nicht sehen mussten. Zuhause lagen Briefe für sie bereit, in denen ich alles erklärte und mich entschuldigte.

Etwas Spitzes sticht in meinen schmerzenden Arm. Jeder Atemzug ist eine Qual. Ich will nicht gerettet werden. Ich will, dass sie mich sterben lassen. Wieso lassen sie mich nicht sterben? Es ist alles so weit weg, aber dennoch kann ich hören, wie meine beste Freundin jemanden anschreit, dass mein Wunsch nicht wäre, am Leben gehalten zu werden. Ich bin so unglaublich dankbar, sie an meiner Seite zu haben. Jetzt spüre ich ihren Atem ganz dicht an meinem Ohr. Sie flüstert: "Es ist okay. Du darfst gehen." Dies sind die letzten, so unglaublich weit entfernten, Worte, die ich wahrnehme, bevor ich das letzte Mal ausatme.

 

Sophie


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