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Deine Hand in meiner

Lesezeit: 4 Minuten;


Triggerwarnung: Suizid
Ich war kurz davor, unter der Last zusammenzubrechen, aber ich musste weitermachen, durchhalten. So lange, bis es vorbei war. Doch ich konnte ihr nicht mehr helfen. Ich wusste es, aber ich begriff es nicht. Ich hatte sie angefleht, zu bleiben, doch sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Ich nahm ihre Hand und ging mit ihr bis zu dem Abgrund. Eiskalter Wind peitschte um uns. Ich sah in die Ferne, zu den Bergen, hinter denen gerade die Sonne verschwunden war und man nur noch einen schwachen Lichtkegel sah,

der langsam aber sicher kleiner wurde. Dann spürte ich ihrem Atem auf meiner Haut. Sie stand so dicht bei mir, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. Dann wanderte ihr Blick zu der Kante und dem Abgrund. Sie ging in die Hocke, dann setzte sie sich aufs Blechdach, ich tat es ihr gleich und ließ ihre Hand dabei nicht los. Ich hatte ihr versprochen, bis zum Ende bei ihr zu bleiben, und ich war fest entschlossen, dieses Versprechen zu halten. Als sie ihr Handy herausholte, wusste ich, dass es nun nicht mehr lange dauern würde. Der Abschiedsbrief lag schon auf dem Bett ihrer Eltern.

Und nun schrieb sie noch eine letzte Entschuldigung an ihren älteren Bruder. Er war der Einzige, der sie je verstanden hatte und ihre engste Bezugsperson. Nicht einmal mit mir war sie so vertraut, wie sie es mit ihm sein konnte. Doch es war meine Aufgabe, den letzten Schritt mit ihr zu gehen. Ich begann zu zittern. Die Kälte hatte mittlerweile meinen ganzen Körper durchdrungen, ich schmiegte mich an sie und spürte ihre Wärme. Wie sollte ich nur ohne sie weiterleben? Sie wusste gar nicht, wie sehr ich sie brauchte. Mein Tag hatte erst dann einen Sinn, wenn ich sie sah oder zumindest etwas von ihr hörte.

Sie hatte ihren Arm um meine Schulter gelegt und ihre Finger streichelten meinen Arm,

während ihre andere Hand weiterhin die meine festhielt. Ich wünschte mir, dieser Moment würde ewig dauern, dass sie mich nie wieder loslassen würde. Manchmal dachte ich, dass ich in solchen Momenten vielleicht wieder einen Funken Hoffnung in ihr wecken konnte, selbst wenn ich höchstwahrscheinlich falsch lag. Doch irgendwie war das jetzt alles egal, denn sie stand schon am Abgrund und alles, was sie tun musste, war Springen. „ Bleib bei mir", flüsterte ich ihr ins Ohr. Es war eher ein Flehen als ein Flüstern.

Sie schüttelte nur den Kopf. Ich lag nun vollkommen in ihren Armen, lehnte meinen Kopf an ihre Schulter. Ich begann zu vergessen, dass ich mich mitten in einer grausamen Situation befand, so schön war dieser Augenblick, so wohl fühlte ich mich bei ihr. Als wäre plötzlich alles um uns herum unwichtig, unbedeutend. Als hätten wir für ein paar Sekunden keine Sorgen, keine vernarbten und von Wunden und Schnitten durchzogenen Seelen.

Doch es war nur ein Sekundenglück. Schon löste sie sich von mir und ich fühlte mich wieder einsam, kalt und leer. Ehe ich mich versah, stand sie schon an der Kante. Ihr Fußspitzen ragten schon über den Abgrund hinaus. Ich sah, wie Tränen ihre Wangen hinunterkullerten und in die schier endlosen Tiefen fielen.

Mit vorsichtigen, kleinen Schritten kam ich zu ihr. Griff erneut nach ihrer Hand, um mich zu vergewissern, dass sie noch bei mir, dass sie noch am Leben war.

Solange ich sie festhielt, würde sie nicht springen, das wusste ich. Aber ich musste sie springen lassen, hatte ich ihr doch versprochen, dass ich sie nicht aufhalten würde. „Du musst mich jetzt gehen lassen", ihre Stimme glich einem flüsternden Windhauch, so zerbrechlich war sie. 

„Küsst du mich vorher noch? Bitte!" Das hätte ich sie so gerne noch gefragt. Aber es war zu spät. Ich hätte ihr schon viel früher meine Liebe gestehen müssen. Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen. Vielleicht hätte sie dann für mich weiter gelebt. Ich hätte ihr Liebe geben können. Hätte ihr zeigen können, wie sehr sie geliebt wird. Doch dafür war es nun zu spät: Ich hatte zu lange auf meine Angst gehört.

Hatte zu lange geschwiegen. Ich senkte den Kopf. Sie ergriff meine Hand, kam mir immer näher.

Ich hätte sie so gerne geküsst. Stattdessen umarmten wir uns. Ich hielt mich an ihren Schultern fest und sie umschlang mit ihren Armen meine Hüfte, strich langsam mit der Hand über meinen Rücken. Doch schon lösten wir uns langsam voneinander. Schon war es zu Ende. Schon waren wir nicht mehr eng umschlungen. Ich fuhr mit meinen Händen langsam ihren Arm hinunter, bis ich nur noch ihre Hände festhielt. Langsam entzog sie sie mir bis sich nur noch unsere Fingerspitzen berühren. Nun entglitten mir auch diese. Sie warf mir einen letzten Blick zu, der gleichzeitig „Es tut mir leid" und „Bitte trauere mir nicht nach, ich bin es nicht wert", sagte.

Dann sprang sie.

 

Hedy


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