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Dein Lächeln

Lesezeit: 2 Minuten;

Triggerwarnung: Suizid
Ich hatte niemals damit gerechnet, diese Schritte zu gehen, zumindest nicht heute.

Vielleicht in 50 Jahren, aber doch nicht heute. Ich setze einen Fuß vor den anderen, die Menschen vor mir treten zur Seite und mein Blick fällt direkt auf dein Foto. Es ist das Foto, das ich von dir gemacht habe, als wir letzten Herbst gemeinsam im Wald spazieren waren. Du warst so unglaublich aufgeregt, als du all die bunten Blätter gesehen hast. Ich habe dann ganz viele Fotos gemacht, doch dieses war unser liebstes.

Du lagst mitten in einem großen Blätterhaufen. So glücklich wie an diesem Tag hatte ich dich so lange nicht mehr gesehen. Direkt neben deinem Foto stehen Blumen. Es sind Chrysanthemen, deine Lieblingsblumen. Ich habe dir jedes Jahr zum Geburtstag einen riesigen Strauß davon geschenkt.

Mein Blick fällt auf das hinter den Blumen und dem Foto.

Mein Herz wird schwerer. Es ist dein Sarg. Ich stolpere ein paar Schritte nach vorne. Würde meine Mutter mich nicht am Arm greifen, würde ich einfach zusammensacken. Ich kann es nicht begreifen, dass du wirklich dort drinnen bist. Ich will schreien, doch ich kann nicht. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Stattdessen schaue ich dich an und sehe, wie zufrieden du aussiehst. So zufrieden warst du lange nicht mehr. Meine Knie geben erneut nach. Diesmal ist es mein Vater, der mich auffängt. Ich wünschte, ich hätte dich auffangen können. Mein Vater zieht mich zu sich und bringt mich zu einem der Stühle. Ich setze mich. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, als ein Mann nach vorne tritt und anfängt zu reden. Er erzählt von dir, von deinem Leben. Doch ich kann ihm nicht folgen, meine Augen füllen sich mit Tränen, ich pikse mir mit dem Fingernagel in den Arm, doch ich kann sie nicht aufhalten. Sie rollen meine Wange hinunter.

Genauso wie an dem Abend, als ich deinen Abschiedsbrief auf meinem Bett gefunden habe. Er war das schönste und doch schrecklichste, das ich jemals gelesen hatte.

Die Menschen um mich herum erheben sich, doch ich kann nicht aufstehen, meine Beine wollen mich nicht tragen. Meine Mutter stützt mich und wir laufen deinem Sarg hinterher nach draußen. Die warme Sommerbrise weht mir entgegen, doch ich will sie nicht spüren. Lieber würde ich deinen Kopf auf meiner Schulter spüren, doch das kann ich nicht mehr.

Als alle dein Grab erreicht haben, lassen sie deinen Sarg hinuntergleiten. Ich zittere so schlimm wie noch nie. Meine Sicht verschwimmt und alles scheint sich zu drehen. Ich werfe eine rosa Chrysantheme hinunter. Und flüstere ein leises:" Ich hab dich lieb." Auch wenn ich weiß, dass es das ist, was du wolltest, lässt es mich es doch nicht begreifen. Ich hatte so oft versucht, dir zu helfen, doch deine Dämonen hatten dich längst eingenommen. Sie hatten dir dein Lächeln gestohlen, das Lächeln, das ich so geliebt habe. Hätte ich gekonnt, hätte ich dir meines geschenkt, wäre für dich gesprungen.

Ich weiß nicht, wie ich ohne die leben soll, nicht, wie ich überleben kann.

 

Sophie


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