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Nie wieder wie zuvor

Lesezeit: 8 Minuten;

 

Ein Kratzen, dann ein leises "Klick".  

"Mama, noch fünf Minuten, bitte" grummle ich und vergrabe mein Gesicht im Kopfkissen. Nun höre ich das Quietschen unserer alten Haustür, Papa wollte sie eigentlich schon längst ersetzen lassen, aber Mama findet sie so "urig". Ich höre das Knarzen des Dielenbodens. Bereits genervt davon, dass ja schon wieder ein neuer Schultag auf mich wartet, drehe ich mich um, sodass mein Gesicht direkt vor meinem Wecker liegt. Jetzt erst bemerkte ich, er hat ja noch gar nicht geklingelt. Langsam öffne ich mein rechtes Auge, die digitale Anzeige zeigt 02.54 Uhr. Verdutzt blinzle ich und öffne auch mein zweites Auge. Warum höre ich um diese Zeit die Haustür? Nun bin ich hellwach. Ich richte mich auf und stoße mir dabei den Kopf an der Dachschräge über meinem Bett. Verdammt, wenn das wieder mein kleiner Bruder Leo ist, seit einiger Zeit ist er immer öfter zum Schlafwandler geworden. Als sich dann ein wenig Sorge in mir breit macht, stehe ich auf und schleiche durch den Flur in sein Kinderzimmer. Doch er liegt in sein Bett und schläft seelenruhig.

In dem Moment, als ich mich umdrehen und wieder in den Flur laufen möchte, höre ich einen dumpfen Knall. Ich zucke zusammen. Was war das? Ein erstickter Schrei lässt mich erneut zusammenfahren. "War das Mama?", höre ich eine erschreckte Stimme hinter mir und gleich darauf graben sich zwei kleine Händchen in meinen Rücken. Ein zweiter Knall ertönt. Ich sehe zu meinem Bruder und sehe die blanke Panik in seinen Augen. Nachdem ich nun Stimmen, die nicht zu unseren Eltern gehören, aus dem unteren Stockwerk höre, schnappe ich mir Leo und laufe mit ihm in mein Zimmer. Mein Herz rast und meine Atmung geht schneller, als die Stimmen näher kommen. Ich greife nach meinem Handy, das neben mir auf meinem Nachttisch liegt. Als ich den Notruf in mein Telefon tippe, bemerke ich, wie stark meine Hände zittern. Mit dem Tuten am Ohr ziehe ich meinen Kleiderschrank auf und zeige meinem Bruder, dass er sich dort hineinsetzen soll. Ich folge ihm und schließe die Tür hinter mir. Jetzt nehme ich die Stimme einer Frau am anderen Ende der Leitung war. Als ich ihre Fragen hastig beantwortet habe, versichert sie mir, dass Hilfe unterwegs sei. Doch nun höre ich Schritte, sie scheinen direkt auf meine Zimmertür zuzugehen. Mit angehaltenem Atem lausche ich, es sind zwei Menschen. Sekunden fühlen sich an wie Minuten. Meine Augen starren in die Dunkelheit. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, dann nehme ich das leise Knarren meiner Zimmertür wahr. Mein Bruder klammert sich noch stärker an mich als die Schritte direkt vor meinem Kleiderschrank stoppen. Ich habe das Gefühl, als würde mein Herz stehen bleiben, in dem Moment glaube ich, jetzt sterben zu müssen, doch dann höre ich ein Geräusch, es ist leise, wird nun aber lauter. Es sind Sirenen. Die Personen vor meinem Schrank scheinen die Sirenen auch zu hören, denn sie werden hastig und flüchten schnell aus meinem Zimmer. Die Schritte werden leiser und die Sirenen immer lauter. 

Selbst als ich ein lautes: „Hallo hier ist die Polizei!" höre, traue ich mich nicht, mich zu bewegen.  Auch Leo ist immer noch erstarrt. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet jemand von außen den Schrank. Es ist ein Mann in Uniform, ein Polizist. Er bittet uns, aus unserem Versteck herauszukommen, es sei nun alles sicher, doch ich kann mich nicht bewegen. Ein zweiter Polizist betritt den Raum, als sich Leo langsam von mir löst und aufsteht, kommt auch ein wenig Leben in mich. Ich hangle mich an der Kleiderstange über mir hoch. Ein Sanitäter greift nach meinem Arm, er stützt mich, denn meine Knie sind noch zu wackelig, um alleine auf ihnen zu stehen.

Er führt uns nach unten, was ich sehe, lässt mich fühlen, als wäre ich mitten in einem meiner heißgeliebten Krimis gefangen. Doch diesmal fehlt die Vorfreude und die Spannung auf das kommende Rätsel. Überall um mich herum sind Polizisten, sie laufen umher, sprechen in Funkgeräte oder packen Dinge in Plastiktütchen. Ich kann es noch nicht richtig begreifen, was hier passiert ist. Mein Herz klopft weniger als zuvor, doch ich spüre das Hämmern so stark in meiner Brust, als würde es mir die Luft abschnüren wollen. Meine Augen wandern nervös umher. Wo sind Ma und Pa? Ich will sie doch einfach nur umarmen, ich will wissen, dass es ihnen gut geht, ich will Ma's Pfirsichparfüm riechen, so wie wenn sie wieder einmal zu einem ihrer Meetings muss und es so stark aufgetragen hat, dass es meinen ganzen Kopf benebelt. Ich will Pa's kuscheligen Bart in meinem Nacken spüren, so wie er mich sonst kitzelt wenn ich ihn morgens vor der Schule umarme. Meine Sicht verschwimmt, ich spüre eine einzige Träne meine Wange hinunterrinnen. Nein, ich muss stark bleiben, für Leo. Ich kann mich, wenn dieser schreckliche Albtraum vorrüber, ist an Ma's Schulter ausweinen. Langsam laufe ich weiter, Meine Hand krallt sich mehr in den Arm des Sanitäters, denn meine Beine schmerzen so sehr, wie sonst nur, wenn ich mit Pa joggen war und am nächsten Morgen mit einem schrecklichen Muskelkater aufwache.

Wir laufen durch den Flur zur Haustür, ich drehe vorsichtig meinen Kopf, denn er pocht, es sind zu viele Gedanken in ihm, schnell kann ich einen Blick ins Schlafzimmer unserer Eltern erhaschen, was ich sehe, lässt alles übrige Leben direkt wieder aus meinen Gliedern verschwinden. Eine Polizistin sieht meinen Blick und schließt die Tür, doch was ich gesehen habe, hat sich auf meiner Netzhaut eingebrannt. Der Anblick meiner reglos daliegenden Eltern und das Blut sind zu viel für mich. Die Stimmen der Menschen dröhnen in meinem Kopf. Mehrere Sanitäter laufen auf mich zu, sie wollen mich packen und von der Tür wegzerren, aber ich kann nicht, ich will nicht. „Mama", flüstere ich, dann wird mir schwindelig und noch bevor ich auf den kalten Fliesenboden stürze wird alles um mich herum schwarz.

 

Sophie


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