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Gott von Wind und Tod

Lesezeit: 9 Minuten;

 

Nordlichter wirbelten in einem langsamen Tanz über den blau-grünen Dächern der Stadt. Beinahe nicht zu sehen von ihrem Standpunkt aus, in einer von Erkern und gefährlichen Anbauten überschatteten Gasse. 

Gedämpfte Stimmen drangen aus den Häusern, irgendwo weiter hinten in der Straße stritt sich ein Paar. Lampen erhellten die staubigen Fenster, spendeten gerade genug Licht, das von den kleinen Schneeansammlungen auf der Straße reflektiert wurde. Aber selbst diese fahle Lichtquelle war zu viel. Auf der Suche nach einem Moment der Ruhe schloss Fera die Augen. Stopp!

 

Sie widerstand dem Drang, auch ihre Ohren zuzuhalten. Der eisige Wind war zwischen den Häusern nicht so stark — und dennoch fuhr er um sie herum und versuchte ihre Seele mit sich zu nehmen, wie er es seit ihrer jüngsten Kindheit tat. Das schlimmste daran war, dass sie ihn in den letzten Tagen — Wochen, Monaten — immer näher an sich heran gelassen hatte. 

Uilean, Gott des Windes und des Todes. Der stetige Begleiter aller Bewohner Lyraks, der gemeinsame Feind, den sie sich alle teilten, in einer Stadt, wo jeder jedes Feind war. 

Fera setzte sich die Kapuze auf, in der Hoffnung, auch die Geräusche auszublenden. Dann lief sie los gegen den Wind, der ihr stetig entgegen blies. Eine Art Ritual, das sie vor Monaten erdacht hatte. Ihr ganzes Leben war sie davongerannt, vor dem Wind, dem Tod. Aber inzwischen rannte sie auf ihn zu. Stemmte sich ihm entgegen. Sie beide wussten, dass Uilean die Überhand hatte, aber Fera würde es ihm nicht noch leichter machen. 

Vielleicht wollte sie ihre Seele nicht mehr. Aber das hieß nicht, dass sie sie dem geben würde, der sie unermüdlich jagte. 

Die Frage war nicht, ob Fera ihre Seele wollte; die Frage war, wem sie sie geben würde. 

Und bis sie diese Frage beantworten konnte, würde sie rennen. Tränen rannen ihre Wangen herunter, fühlten sich an wie Eis auf ihrer Haut. Tränen der Wut. Tränen des Trotzes. Alles, nur nicht Tränen der Trauer. Sie war fertig mit Trauer. 

Langsam, aber sicher, hatte sie sich von denen entfernt, die geglaubt hatten, sie zu lieben. Jetzt war sie alleine und wem nützte es irgendetwas? 

Sie bog in die nächste Gasse ein, die zu den Klippen führte, auf denen Lyrak erbaut war. Eine Stadt so hoch in den Bergen, dass sie den Windgott geradezu dazu einlud, sein Unwesen zu treiben. So viele hatte er schon über den Rand getrieben. Aber nicht Fera. Niemals Fera. 

 

Sie lief in Richtung der Brücken, die ins Nichts führten, kunstvolle Bauwerke, die Besuchern der Stadt einen atemberaubenden Blick auf die umliegenden Berge ermöglichen sollten. Ein freudloses Lächeln umspielte Feras Lippen bei diesem Wortspiel. Atemberaubend. Wahrer, als es manch ein nichts ahnender Besucher ahnte. 

Die Bewohner Lyraks setzten nie einen Fuß auf die Brücken. Sie waren die Heimat von Uilean und niemand forderte freiwillig den Tod heraus — außer denen, die nichts mehr zu verlieren hatten. 

Fera zögerte kurz. So viele Menschen, die sie enttäuscht hatte, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte, eine Maske zu tragen. So viele Träume, die sie zerschlagen hatte, weil sie niemals ihr gehört hatten. 

Sie nahm einen tiefen Atemzug und betrat die Brücke. Trat heraus aus den schützenden Häuserreihen, die sie vor den schlimmsten Böen des Windes schützte. 

Sofort spürte sie die eisigen Krallen, die von allen Seiten an ihr zerrten. Ihr loses Haar wurde umher gepeitscht, ihre Kleidung blähte sich auf und Fera musste die Augen zusammenkneifen, als der Wind ihr alles ins Gesicht blies, was sich in ihm verfangen hatte. Sich in den Gassen gegen den Wind zu stemmen war mühselig. Sich hier draußen auf den Brücken gegen ihn zu stemmen, war Wahnsinn. 

Fera machte einen Schritt, aber hielt den Kopf gesenkt. Zitternd stand sie auf der Brücke, ganz am Anfang. Eine unendlich lang scheinende Distanz zwischen ihr und dem Ende der Brücke. Zwei Schritte, die sie wieder zurückbrachten. In Sicherheit. Eine Sicherheit, in der der Tod sie verfolgte. 

Fera tat einen weiteren Schritt. 

Der Sturm toste und brüllte um sie herum, sie meinte, seinen Zorn förmlich spüren zu können. Wie wagte es eine Bewohnerin Lyraks, eines seiner Kinder, sein Reich zu betreten? 

Fera hob mit abschirmender Hand den Kopf. Wie wagte es Uilean, ihr Gott, ihr Leben zu einer Brücke zu machen, auf der sie ständig um ihr Gleichgewicht kämpfen musste? 

Sie öffnete den Mund und schrie. Schrie ihn an, den Wind, den Tod, den Gott. Schrie ihm all ihre Wut und Verzweiflung, all ihre Panik und Trauer entgegen. 

 

Und der Wind antwortete. Was vorher ein heftiger Sturm gewesen war, ballte sich nun zu einem Orkan zusammen. Zerrte Fera von den Füßen. 

Hart schlug sie auf dem Stein der Brücke auf, die sie noch immer nicht zur Hälfte überquert hatte. Sie rang nach Atem, doch der Wind stahl ihn ihr. Ihre Glieder schmerzten vor der Anstrengung, dem konstanten Zerren und Reißen ausgesetzt zu sein. 

Aber sie würde. Verdammt. Noch. Mal. Nicht. Aufgeben! 

Fera biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch. Sie stand nicht aufrecht, aber genug, um zu gehen. Stemmte ihre Füße in den Boden, als würde ihr Leben davon abhängen — was es tat. Schritt für Schritt für Schritt. Ein Kampf mit dem Sturm. 

Sie wagte es nicht aufzublicken. Jeder Schritt fühlte sich an wie eine eigene Reise, eine eigene Gefahr. Schwer atmend kämpfte Fera sich voran, bis ihre Hände auf Stein stießen. 

Fera blickte auf. Das Ende der Brücke war erreicht. Sich an das Geländer klammernd warf sie einen Blick auf die Berge unter sich, sturmumtost und von Nebel verhangen. 

Sie hob den Blick und blickte dem Sturm — dem Tod — ins Gesicht.  

»Nie wieder«, flüsterte sie, ihre Worte ein Versprechen. »NIE WIEDER wirst du mich jagen!« 

Fera umklammerte die Balustrade so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. 

»Du bist mein Tod, aber ich bin mein Leben und ich bin STÄRKER.« 

Sie zitterte unter der Wucht des Sturmes, aber sie hielt sich fest, verlor nicht das Gleichgewicht, nicht diesmal. 

Diesmal begegnete sie dem Tod als ebenbürtig. 

Und Uilean akzeptierte ihre Forderung. 

 

Der Wind wurde schwächer. Nicht viel — gerade so, dass Fera sich nicht mehr festklammern musste. Sie wandte sich um, einen letzten Blick über die Berge schweifen lassend, wohlwissend, dass sie in diesem Leben nie mehr hierherkommen würde. Sie hatte es nicht mehr nötig. 

Mit gehobenem Kopf lief sie als erste Bewohnerin Lyraks über die Brücke zurück. Der Wind spielte mit ihrem Haar, zog neckend an ihrer Kleidung, aber sie fürchtete ihn nicht länger und er sah sie nicht länger als untergeben. 

Fera hatte vieles falsch gemacht. Hatte alle enttäuscht, am meisten wohl sich selbst. 

Aber sie war stark. Sie verdiente den Tod nicht. Und der Tod verdiente sie nicht. Sie war besser als er. 

Und mit diesem Gedanken trat sie wieder in die Gassen Lyraks. In ihrem Rücken wichen die Nordlichter den ersten Sonnenstrahlen nach einem viel zu langen Winter. 

Bedeuteten den Anfang einer neuen Zeit. 

 

Julia


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