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Kind der Nacht

Lesezeit: 4 Minuten; 


Es war Nacht. Es passierte immer nachts. Ich versteckte mich unter der Bettdecke, wohlwissend, dass es Ihn nicht aufhalten würde. Gleich würde im Flur das Licht angeknipst werden und Er würde kommen. Fast doppelt so hoch wie ich, mit Gürtel an der Hose und jeder Menge Verlangen an mich. ,,Schweig!" sagte Er immer. ,,Schweig oder ich töte dich!" Also schwieg ich.

Nur ein Gedanke, eine Frage wirbelte in diesen Momenten, in denen ich im weißen Nachthemd vor Ihm kniete, durch meinen Kopf: Wird dieses Schweigen je ein Ende haben? Ich wollte keine Angst vor Licht haben, ich wollte keine Angst vor meiner Stimme haben. Aber ich hatte keine Wahl.

Er hatte mein einst so reines Kinderherz in dunkle Farbe getaucht und im kühlen Nachtwind trocknen lassen. Und mit jeder Nacht, in der Er kam und das Licht all die Ding ankündigte, die in den nächsten Stunden passieren würden, mit jeder Nacht verlor ich mich selbst ein kleines Stück mehr.

 

11 Jahre später:

 

Die schweren Lederstiefel knarzten leise, als ich auf die Straße trat. Behutsam, so vorsichtig dass meine zitternden Hände keinen Lärm machten, schloss ich die Tür und der Lichtkegel, der die finstere Gasse kurz erleuchtet hatte, verschwand. ,,Alone again" flüsterte ich der Dunkelheit entgegen und lief los.

Ein Ziel hatte ich nicht. Natürlich nicht. Das Einzige, das ich je wollte, war eine Antwort auf meine Frage, ein klitzekleines bisschen Hoffnung. Aber die gab es nicht. Hatte es nie gegeben und wird es nie geben. So ist das in meinem Leben. Ich bog in eine kleine Seitenstraße, weg von dem Licht der Laternen, das mich ohne Unterlass verfolgte und zog mir mit einer Hand die Kapuze des Mantels in die Stirn.

Mit jedem Schritt verschmolz ich mehr mit der Finsternis, bis ich nur noch ein Schatten meiner selbst war. In mir war ein Loch, welches auf Antworten hoffte, welches mich nach und nach, ganz langsam, aber sicher auffraß. Immer schneller lief ich durch die Dunkelheit, planlos irrte ich umher.

Schließlich stand ich vor einer Feuerleiter, die wohl auf das Flachdach einer alten Fabrik führte. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich oben. Das Lichtermeer der Großstadt empfing mich. ,,Wie seltsam", dachte ich, ,,dass ich trotz des vielen Lichts in völliger Dunkelheit lebe." Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, kannte ich den Grund ganz genau. Hinter meine Mauer aus Schweigen fiel kein Licht, nicht der winzigste Sonnenstrahl. Hinter dieser Festung gab es nur mich und die Nacht. Schweigen bringt Sicherheit. Aber ich hatte keine Lust mehr auf Mauern.

Ein spitzer Schrei tönte durch die Stille. Erst als mein Hals brannte, bemerkte ich, dass ich es war, die geschrien hatte. Die Mauer fiel.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Dach gesessen hatte, bis mir die ersten Strahlen der Sonne ins Gesicht schienen und langsam den dunklen Nachthimmel erhellten. Ich hatte das Schweigen gebrochen, welches mein Leben regiert hatte. Und da war noch etwas, ein seltsam unbekanntes Gefühl. Hoffnung. 

 

Frida


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