»Du hast mündlich eine vier minus, aber ich weiß, dass du das eigentlich besser kannst. Trau dich mal, mehr zu sagen!«
»Ich gebe dir mündlich eine eins minus, aber nur weil ich weiß, dass du gut bist in dem Fach, deine Beiträge könnten mehr werden, sonst muss ich auf eine zwei gehen.«
»Du bekommst mündlich eine zwei minus, eigentlich wäre das von deinen Meldungen her eine drei, aber deine Aussprache in Französisch ist gut, deswegen gibt es noch die zwei.«
»Du bist ja so gut in meinem Fach, du kriegst eine eins, ganz klar.«
Das sind alles Rückmeldungen, die ich bei mehr oder weniger gleichen Leistungen in verschiedenen Fächern bereits von Lehrkräften bekommen habe. Schriftlich bin ich eine gute Schülerin, habe fast nur Einsen, ab und an auch mal eine zwei oder drei.
Mündlich hingegen habe ich in den seltensten Fällen eine eins, da steht mein Durchschnitt eher auf drei. Wieso? Nicht weil ich die Antworten nicht wüsste, sondern weil es mir manchmal Panik bereitet, den Finger zu heben. Ja, ich weiß die Antwort, aber was wenn sie falsch ist?, ist hierbei nicht einmal das größte Problem. Vor Leuten reden ist für manche Personen einfach nicht so einfach. Es kostet manche Personen Überwindung, sich ein Eis zu kaufen, Überwindung, bei Freunden anzurufen aus Angst, ein anderes Familienmitglied geht an den Hörer.
Wenn man klein ist, wird das als Schüchternheit abgetan, je älter man wird, desto mehr wird man von seinem Umfeld in eine Zone gedrängt, in der diese angebliche Schüchternheit lächerlich wird.
Wenn mir in meinem Dorf auf der Straße jemand begegnet, bekomme ich Herzklopfen, weil ich weiß, dass ich jetzt Hallo sagen muss, um sozial akzeptiert zu werden. Lange konnte ich das gar nicht. Wenn ich mit meinen Eltern unterwegs war und ein Stück vorgelaufen bin, bin ich zu ihnen zurückgegangen, sobald Leute auf mich zugekommen sind, damit ich sie nicht allein getroffen habe. Mittlerweile bin ich darin besser, aber an manchen Tagen geht es einfach nicht. Dann gehe ich stumm an Leuten aus meinem Dorf vorbei und mache mir, bis ich dann zuhause bin, Gedanken darüber, dass diese Leute jetzt denken, dass ich extrem unhöflich bin.
Genauso ist es in der Schule. Bis ich die Überwindung, die es kostet, mich zu melden, aufgebracht habe, hat die Lehrkraft schon jemand anderen drangenommen. Melden ist nicht leicht für mich. Soziale Situationen im Generellen sind nicht leicht für mich. Ich weiß nicht, ob ich Sozialphobie oder etwas in der Art habe. Ich weiß, dass die Schule keine Rücksicht auf Leute wie mich nehmen kann, vor allem nicht, solange ich ihnen nicht eine Diagnose vor die Nase klatsche, auf der irgendein Arzt bestätigt, dass ich mich unkomfortabel in der Präsenz von Leuten fühle, die nicht zu meiner engen Familie und meinen engen Freunden gehören. Sogar bei manchen Freunden formuliere ich WhatsApp Nachrichten tausende Male um, bevor ich sie absende, aus Angst, etwas Komisches zu sagen.
Ein Praktikum von der Schule aus zu machen? E-Mails an fremde Leute schreiben, sogar mit ihnen zu telefonieren? Albtraum.
Ich bin gut in Formulierungen, aber wenn mich ein Verlag, dem ich eine Geschichte zugeschickt habe, anschreibt mit den Worten »Wir haben schon länger nichts mehr von Ihnen gehört, sind Sie noch interessiert daran, in unserer Anthologie veröffentlicht zu werden?«, dann breche ich in Panik aus, da zwei Dinge, mit denen ich nicht umgehen kann, vereint werden: Soziale Situationen und Stress. All mein Wissen über Formulierungen verlässt mich. Ich kriege es nicht hin, eine ordentliche E-Mail zu tippen.
Kommen wir zurück zu mündlichen Noten und den genannten Beispielen von oben. Das sind echte Rückmeldungen, die ich bei mehr oder weniger ähnlichen Leistungen in verschiedenen Fächern erhalten habe.
Bei manchen Lehrkräften melde ich mich fast einmal pro Stunde und bekomme eine vier minus. Bei anderen melde ich mich dreimal in einem Vierteljahr und bekomme eine eins minus. Das ist nicht fair.
Manche Lehrkräfte machen den EPO-Zeitraum in eine Phase, wo Vorträge gehalten werden und führen dann Strichlisten, wer in welcher Stunde Feedback gibt. Persönlich bin ich nicht sonderlich gut im Feedback geben, aber ich habe es, als ich davon gehört habe, wirklich versucht mich zu melden. Aber ich saß in diesen Stunden hinter meiner Lehrkraft, die meinen Finger nicht gesehen hat. Wenn vier Leute dran waren, kann man sich eh nicht mehr melden, da man nur Sachen wiederholen würde. Manche wiederholen dann Zeug und kriegen diesen verdammten Strich, aber ich kann und will es nicht einsehen, dass ich konstruktive Kritik beisteuern will und wenn alles gesagt ist, meinen Finger runternehme, da ich die Leute, die vorgetragen haben, nicht nerven will, und die Lehrkraft dann jemand anderem, der Sachen wiederholt, einen Strich gibt. Ich hasse es. Vor allem, da Leute die vortragen, ja auch nicht einschätzen können, wie dringen ich anstatt der Personen, die jetzt schon zehn Mal Rückmeldung gegeben haben, drankommen will, und mich dann nicht drannehmen, weil sie es nicht besser wissen.
Manche Lehrkräfte geben uns Selbsteinschätzungsbögen, auf denen dann Sachen stehen wie »Ich melde mich unaufgefordert«, »Meine Beiträge sind gut« und »Ich bin immer gut auf die Stunde vorbereitet.«
Auch wenn ich bei ersteren zwei Kriterien meistens im hinteren Bereich mein Kreuz setze, so kommen dann unzählige kleine Kriterien von wegen »Ich mache in Gruppenarbeiten gut mit« (Auch immer schön das in Fächern zu sehen, wo Gruppenarbeiten bisher noch nicht drankamen) und »Ich habe immer meine Hausaufgaben.«
Bei diesen Sachen kann ich meine Kreuze durchaus im guten Bereich setzen, sodass im Endeffekt mehr Kreuze bei »gut« als bei »schlecht« sitzen. Trotz dessen habe ich am Ende eine vier minus, weil zwei Kreuze zu weit hinten sitzen.
Bei schriftlichen Arbeiten bekommt man bei der Hälfte der Punkt eine vier. Bei mündlichen Noten bekommt man bei 2 von 7 »schlechten« Kreuzen eine vier minus.
Wenn es sowieso unfair ist, wieso macht man dann überhaupt diese Selbsteinschätzung? Bringt sie was, außer dass die Lehrkraft einen demütigen kann, wenn man von einer geschätzten zwei auf eine vier abrutscht?
Ich weiß, dass es festgelegte Kriterien für mündliche Noten gibt, aber wo steht festgeschrieben, wie man diese Kriterien auslegt? Wieso bekomme ich, die das meiste versteht, sich aber nie meldet, eine eins minus wenn Leute die zwar nicht alles, aber einiges verstehen und sich genauso oft melden wie ich, eine vier minus?
Wieso bekomme ich im gleichen Fach bei der einen Lehrerin eine vier, bei der nächsten eine zwei minus, bei exakt der selben Leistung? Wieso geben mir teilweise Lehrkräfte, die mich mögen, weil ich schriftlich gut bin, gute mündliche Noten, die sie mir allein deshalb geben, weil sie mich, die sich nicht meldet, für eine Aufgabe, die ich beantworten kann, drannimmt, anstelle von den sieben Personen um mich herum, die sich melden?
Mündliche Noten sind nicht von Grund auf schlecht. Noten — ja, Noten sind kritisch. Aber in einem Notensystem auch mündliche Noten zu vergeben, ist sinnvoll. Es rettet vielen die Note. Aber mich haben sie im letzten Halbjahr im Zeugnis bei ganzen sieben Fächern eine Note verschlechtert. Ich könnte in jedem Fach außer Sport, wo ich sowieso schlecht bin und vielleicht noch Mathe eine eins im Zeugnis haben, gäbe es keine mündliche Noten.
Umgekehrt könnte ich in Sport locker von einer drei auf eine zwei kommen, wenn man in diesem Fach wie in der Grundschule auch, mündliche Noten bekäme, nämlich darauf, wie man im Unterricht mitmacht.
In meiner Sportgruppe gibt es vereinzelt Personen, die zwar extrem gut in Sport sind, aber bei Übungen oft an der Seite sitzen, weil sie ja eh schon alles können.
Das ist nicht der Sinn an Sport. Wenn wir Mitarbeitsnoten bekämen, egal, wie schlecht man ist, wäre Sport nicht so schlimm. In der Grundschule war ich auch schon schlecht in Sport, hatte aber trotzdem viele Einsen im Zeugnis. Warum? Weil unsere Lehrerin nicht darauf geachtet hat, wie oft wir einen Basketball in den Korb werfen konnten oder wie viele Leute wir beim Völkerball abgemacht haben. Es ging darum, Leuten den Ball auch mal abzugeben. Personen nicht mit Absicht mit voller Wucht den Ball ins Gesicht zu werfen. Im Unterricht nicht nur an der Seite zu sitzen.
Mündliche Noten — ja, sie können Noten retten. Aber können wir bitte ein System festlegen, bei dem sie fair vergeben werden? Und können die Noten, in denen jemand besser ist — mündlich oder schriftlich — bei der Zeugnisausgabe mehr gezählt werden?
Das würde mir helfen, mir nicht den Stress machen zu müssen, mich trotz Panik irgendwie im Unterricht beteiligen zu müssen. Das würde Leuten, die schriftlich nicht gut sind, helfen, ihre Note mündlich so zu verbessern, dass sie auf ein gutes Endergebnis kommen.
Wenn man schon Noten macht, dann sollten sie wenigstens fair sein!
Und noch etwas: Nur weil meine Noten eigentlich gut sind, heißt das nicht, dass ich keine Probleme habe. Ich habe das Gefühl, dass bestimmte Ängste und Probleme von anderen oft nicht ernst genommen werden, wenn sie nicht die schulischen Leistungen einschränken. Solange die Noten gut sind, ist der Rest egal. Nur weil ich mich manchmal melden kann, heißt das nicht, dass es mir immer leicht fällt. Nur weil ich meistens aufpasse, heißt das nicht, dass ich nicht doch von Zeit zu Zeit ernsthafte Schwierigkeiten habe, mich zu konzentrieren. Nur weil man das nicht an meinen Noten sieht, heißt das nicht, dass es nicht wahr ist. Es sollte Hilfe für alle Menschen geben, nicht nur für diejenigen, die in der Schule davon ernsthaft eingeschränkt werden.
Staubkorn
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