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Traumjäger

Lauernd hockte Yalan auf dem Dach eines zerstörten Gebäudes. Seine dunkelblau gefärbten Haare wurden ihm von der Nachtbrise ins Gesicht geweht, sein Obsidianschwert lag ihm locker auf den Knien. Seine dunkle Haut, der schwarze Mantel und die kalte, schwarze Waffe verschmolzen mit der Nacht. 

Yalan war auf der Jagd. 

Er wusste, dass sich in dem Haus zu seinen Füßen oft obdachlose Menschen zur Nacht zusammenfanden, um in den Ruinen Schutz vor den Elementen zu suchen. Hier war ein guter Ort, um nach Albträumen zu jagen.

Für Yalans geschärfte Traumjägeraugen zeichneten sich in der Nacht wirre Gestalten ab. Manchmal tanzend, singend, weinend, sterbend bewegten sich allerlei Wesen über die Häuser der Stadt. Träume.

Die meisten dieser ignorierten Yalan, waren nicht mehr als Gedanken und Geister der Menschen. Friedlich.

Nicht so Albträume.

Yalans Augen verengten sich zu Schlitzen, als er eine Bewegung wahrnahm. Beinahe lautlos ließ er sich vom Dach gleiten und fand sich in einer schwach beleuchteten Gasse wieder. Da!

Der Schatten huschte um eine Ecke.

Yalan legte sein Schwert an den Rücken und setzte der formlosen Gestalt in geduckter Haltung nach.

Es begann eine Jagd durch die verwinkelten Gassen der Stadt, die Yalan inzwischen kannte wie seine Manteltasche.

Der Albtraum jedoch schien nicht das erste Mal in dieser Nacht heraufbeschworen worden zu sein, denn er wich Sackgassen - bewusst oder unbewusst - aus.

Yalan wechselte über eine Mauer auf die Dächer, um einen besseren Überblick auf die Stadt zu erhalten, sprang über die Lücke zwischen zwei Häusern und kam schließlich, als wäre er selbst ein Traum, leichtfüßig vor dem Schatten auf die Füße.

Der Albtraum hatte die Form eines in Leder gepanzerten Kriegers, zu dessen Füßen eine junge Kriegerin lag. Blut floss ihr aus zahlreichen Wunden, ihr linker Arm stand in einem unnatürlichen Winkel ab.

Ein weiterer Kriegsveteran also, der diesen Albtraum heraufbeschworen hatte.

Yalan zog sein Schwert.

Das erste, was man in der langen Ausbildung eines Traumjägers lernte, war, dass man Träume nicht wie einen Menschen umbrachte.

Yalan zog eine winzige Phiole aus seiner Manteltasche und zog mit den Zähnen den Korken daraus, während sich der Albtraum weiter um ihn ausbreitete. Er atmete tief ein und aus, als der Albtraum um ihn herum immer mehr Gestalt annahm. Wo vorher nur eine Szene zu sehen war, färbte sich der Himmel langsam blutrot. Die Häuser verblassten und machten einem Schlachtfeld Platz, bis die Stadt um Yalan völlig von dem Albtraum eingenommen worden war.

Yalan schloss die Augen. Nicht denken. Er fühlte, wie er schläfrig wurde und zog eine weitere Phiole aus einer Manteltasche und trank den Inhalt. Nicht einschlafen. Yalan bevorzugte es, einen Albtraum auszulöschen, bevor er völlig in ihm gefangen war, damit er sein wirkliches Umfeld sehen konnte. Er hatte keine Zeit gehabt, sich die Gasse einzuprägen, bevor der Traum seine Illusion über ihn gelegt hatte. Yalan wollte verhindern, gegen eine Wand zu stoßen, die er nicht sehen konnte. 
Das Problem an Träumen war: Sie verschwanden am Tag, nur um nachts wiederzukehren. Es brachte nichts, den Schläfer aufzuwecken. Man musste Albträume verändern. 

Yalan ging zu dem Krieger hin, der über der jungen Frau stand und kniete sich hin. 

Er holte Nadel und Faden und Verbände aus seinem Mantel und begann, die hoffnungslosen Wunden zu behandeln. Die Kriegerin rührte sich nicht. 

Es dauerte lange. Der Krieger über Yalan bewegte sich nicht, stand still da und beobachtete die tote Kriegerin. Yalan zog den Faden fest und trennte das Garn. Aus seinem Mantel holte er Wasser und ein Tuch, mit denen er der Kriegerin das Blut vom Körper wusch, bis sie fast wieder schlafend aussah. Dann richtete er sich auf und stieß den Krieger mit dem Fuß auf den Boden. Diesen traf der Stoß völlig unvorbereitet und mit wenigen Schritten war Yalan über ihm, hatte ihm das Schwert entwendet und ließ es durch seine Brust fahren. 

Dann wandte er sich um. So viele Tote und Kämpfende. 

Er eilte zu dem nächsten kämpfenden Paar und entwendete den Kämpfenden die Klingen. Natürlich sahen sie ihn dabei nicht. Niemand sah ihn. Er war in einem fremden Traum. Und auch wenn Müdigkeit drohte, ihn zu überwältigen, so war er doch noch nicht eingeschlafen. Er war sicher. 

Noch. 

Yalan beeilte sich. Schloss die Wunden Fremder, brachte Menschen davon ab, zu kämpfen und tötete einige wenige, die nichts anderes verdient hatten. 

Dann zog er die Toten alle an eine Stelle. 

Die Ebene um ihn herum war kahl und braun, so weit das Auge reichte. Yalan zog ein Säckchen mit Samen aus seinem Mantel und streute den Inhalt auf den trockenen Boden. Dann goss er den Inhalt seiner Wasserflaschen darüber. 

Anschließend zog er eine Taschenuhr hervor und drehte an dem kleinen Rädchen, das die Zeit beschleunigte. In Träumen war alles möglich.

Die Zeit von Monaten wurde in Sekunden komprimiert und ein grüner Rasen spross. Die Zeit von Jahren verging und das Gras hatte die Körper der Toten vollständig bewachsen, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Yalan befahl den Lebenden, zu gehen. Mehr Samen. Mehr Zeit. Ein Wald wuchs. Wasser, Wasser, Wasser. Eine Quelle entsprang.

Yalans Finger wurden beinahe taub vom Drehen an der Uhr, bis die Natur um ihn herum vollständig war. Jetzt musste er nur wieder heraus kommen. Er stellte sich an den Fluss und schnitt mit seinem Obsidianschwert einen Riss in den Albtraum. Wie eine Stoffschicht klappte er die Welt, die er soeben im Kopf eines Fremden erschaffen hatte, zurück und kroch wieder heraus in die wirkliche Welt.

Dunkel lag die Gasse vor Yalan. Er war unbeschreiblich müde. Er wandte sich um und sah, dass der Schatten, den er zuvor verfolgt hatte, nun eine kleine Blume war, die zwischen den Pflastersteinen wuchs. Nur ein leichtes Schimmern verriet, dass sie nicht wirklich da war und am Morgen verschwunden sein würde.

Gähnend und mit schmerzenden Gliedern machte Yalan sich auf zu seinem eigenen Schlafplatz, wo seine ganz eigenen Albträume auf ihn warten würden. Er war zu einem Traumjäger geworden, damit irgendwann auch jemand seine Träume in solche Szenen verwandelte, wie er es tat.

Er hoffte, dass es irgendwann jemand geben würde, der seine Albträume töten würde und zu einer kleinen gelben Blume machte, die ihm zeigte, dass der alte Schmerz irgendwann vorübergehen würde.

 

Julia

 

 


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