Es war lange nach Mitternacht, doch der Morgen war noch fern und die Häuser lagen im Zwielicht der Sterne und einer einsamen Mondsichel. Ein sanfter Wind wehte Herbstlaub umher, doch bis auf sein sanftes Flüstern und dem gelegentlichen Ruf eines Vogels war es totenstill.
Eine Gestalt hob sich als weißer Kontrast von den in einen schwarzen Mantel gehüllten Bergen ab. Ruhig, eine Hand über das Knie gelegt, hockte sie auf einem Hausdach und schien auf etwas zu warten. Die totweißen Gewänder der Gestalt wehten sacht im Wind.
Ein blitzendes Messer, das so aussah, als hätte es noch nie jemandem etwas zuleide getan, hing an einem weißen Band, das sich das Wesen um die Hüfte geknotet hatte.
Die Gestalt schob ihre Kapuze herunter und enthüllte das bleiche Gesicht einer jungen Frau, kein Haar zierte ihren Kopf. Sie wartete auf etwas. Einen Ton. Oder vielleicht auch nicht. Sie gaben überraschend selten Geräusche von sich, es waren die Angehörigen, die in wehleidiges Schreien verfielen.
Wieso, dass hatte sie nie verstanden. Sie sollten sich freuen, dass ihre Liebsten endlich frei waren und von der Frau in ihr Reich geleitet wurden.
Es war dieses Schreien, auf das die Frau wartete. Manchmal schrie aber auch niemand. Manchmal blieb alles still, bis am Morgen oder Tage darauf jemand das Geschehene bemerkte.
Manchmal bemerkte es auch niemand. Die Personen gingen still und leise, ohne, dass es bemerkt wurde. Häufig waren es diese Leute, die aus eigener Kraft zu der Frau kamen.
Das fand sie traurig. Ihr Reich sollte eine Überraschung, eine Freude und ein Anschluss an ein Leben sein, das erfüllt wurde; nicht ein Ort, den man aufsuchen sollte, wenn man nichts mehr hatte, was einen davon abhielt ihn zu besuchen.
Doch natürlich hieß sie auch diese Personen willkommen. Sie verdienten ihr Reich mehr als jeder andere.
Die Schreie setzten ein. Gequältes Heulen, Rufe, Stummes Entsetzen. Es war Zeit.
Bedächtig stand die Frau auf und glitt wie ein Schatten von dem Dach hinunter. Lautlos kam sie auf dem Boden auf und schritt durch die verschlossene Tür wie durch Wasser.
Es waren zwei Kinder, eines noch klein und eines fast schon ausgewachsen, die über dem Leichnam klagten. Ihre Eltern standen leidend darüber, sich aneinander festhaltend, Kraft spendend, während sie auf ihr drittes Kind blickten. Ihr drittes, totes Kind.
Es war noch längst nicht auf dem Weg des Erwachsenwerdens angekommen, doch bereits in dem Alter, wo die Welt begann, einen einzuholen.
Ungesehen schritt die Frau zu dem Kind, ihre Gewänder hinter ihr her schwebend, das blitzende Messer in ihrer Hand. Mit einem behutsamen Schnitt trennte sie die Seele des Kindes von seinem Körper und brachte sie in ihr Reich.
Sie und die Seele stiegen in die Nacht hinauf, bis sie zu Sternen wurden und sich zahllosen anderen Seelen auf ihrer Reise zu den ewigen Hallen anschlossen.
Julia
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