1. Dezember
Schneeflocken wirbelten durch die klirrend kalte Winterluft. Mit eingezogenem Kopf, die eisigen Hände in den Manteltaschen vergraben, stapfte Morana über die verlassenen Gehwege der Kleinstadt. Ausgerechnet in diesem Wetter - oder gerade wegen des Wetters - fiel ihr Bus aus und sie musste den ganzen Weg von ihrem Büro nach Hause laufen.
Es war bereits dunkel geworden und Straßenlampen erhellten ihren Weg. Nur wenige Autos fuhren auf den Straßen, lediglich in der Ferne vernahm Morana die Sirene eines Polizeiautos. Eilig bog sie in ihre Straße ein und kramte mit zitternden Händen den Haustürschlüssel hervor.
Von einem Fuß auf den anderen tretend, um die scheußliche Kälte aus ihren durchweichten Stiefeln zu vertreiben, schloss Morana ihre Haustür auf und trat ein in die Wärme ihres kleinen Hauses.
Vor Erleichterung aufseufzend streifte sie sich Schuhe und Mantel ab, entledigte sich ihres Schals und der Mütze und ging sogleich in die Küche, um sich einen warmen Tee aufzubrühen.
Während Morana wartete, dass das Wasser heiß wurde, wanderte ihr Blick aus dem Fenster auf die trostlosen Straßen und das Schneetreiben.
Sie verstand den ganzen Trubel um die Weihnachtszeit nicht. Es war gewiss schön, ein Fest mit seiner Familie und Freunden zu feiern - wenn man denn eine tolle Familie hatte und die Freunde nicht kilometerweit entfernt wohnten. Doch abgesehen davon? Ekelhaft kalter, nasser Schneematsch, scheußliche Dekoration - einer von Moranas Nachbarn hatte einen Weihnachtsmann am Fenster hängen, überall traf man auf bunt blinkende Lichterketten und sie hatte sogar schon einen aufblasbaren Schneemann in einem Garten stehen sehen. War man denn heutzutage schon zu faul, diese seltsamen Dinger selbst zu bauen? Von den immer gleichen Weihnachtsliedern im Radio gar nicht zu sprechen.
Morana war jedenfalls froh, wenn die Weihnachtszeit vorbei war und die Tage wieder länger wurden.
Natürlich konnte niemand wissen, dass Moranas Winterzeit in diesem Jahr noch unerträglicher werden würde, als alle anderen zusammen.
Julia
2. Dezember
Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, war Moranas dringendstes Bedürfnis immer, etwas zu essen und ihren Tee zu trinken. Und wie immer aß sie die Reste vom Abendessen, ohne es in der Pfanne aufzuwärmen. Verbrauchte sowieso zu viel Gas.
Dann griff sie zielstrebig ihrer Lieblingstasse und warf einen kurzen Blick hinein. Seit sie einmal eine große Spinne mit Kaffee übergossen hatte, ging sie immer auf Nummer sicher.
In der Tasse lag ein kleiner Zettel.
Als sie die Tasse umdrehte, segelte er durch die Luft und landete auf ihrer ausgestreckten Hand. Buchstaben verteilten sich darüber wie Spinnenweben über alte Fenster.
Wie war der denn da rein gekommen? Und wann? Sie hatte die Tasse heute morgen aus der Spülmaschine geräumt. Zettellos.
Morana goss Tee in ihre Tasse. Dampf stieg hoch und der Geruch nach längst vertrockneten Blüten breitete sich in der kalten Wohnung aus.
Nach dem ersten Schluck heiße Flüssigkeit fühlte Morana sich schon viel besser. Wenn in einer Tasse etwas war, was sie dort nicht hin getan hatte, wieso nicht auch in anderen?
Systematisch begann sie, ihre dreizehn Tassen zu durchsuchen. Dreizehn Zettel landeten in ihrer Hand und Morana verfluchte sich dafür, dass sie keinen Tesafilm im Haus hatte. Sonst hätte sie die zerrissenen Teile einfach zusammenkleben können. So musste sie rumpuzzeln und hoffen, dass sie nicht alles mit ihrem Niesen zu Grunde machte.
Draußen viel matschig grauer Schnee. Drinnen wurde Moranas Tee kalt. Dreimal erscholl Niesen, gefolgt von heftigem Husten. Als die Zettel endlich zusammengesetzt auf ihrem Küchentisch lagen, machte Morana erst mal ein Handyfoto. Dann begann sie, einen Brief zu lesen, der ganz klar nicht an sie adressiert war.
An die Todgeweihte…
Hannah
3. Dezember
Mit zitternden Fingern legte Morana ihr Handy beiseite und las weiter.
An die Todgeweihte.
Der Winter naht und mit ihm ihm deine Zeit zu sterben.
Sie schluckte schwer.
Es ist bestimmt, der Rat hat beschlossen.
Nichts kann unternommen werden, um dein Schicksal zu ändern.
Du. Wirst. Sterben.
Mit einem Mal war es Morana, als krieche die winterliche Kälte von Draußen durch die Fenster in ihr Haus. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper.
War dieser Brief doch an sie gerichtet? War sie die Todgeweihte? Nein. Das konnte nicht stimmen. Da hatte sich nur jemand einen schlechten Scherz erlaubt.
Mit einer raschen Bewegung fegte Morana die Zettelfetzen in den Mülleimer und ersetzte sie durch eine Keksdose. In viel zu kurzer Zeit stopfte sie sich mit viel zu vielen Keksen voll. Noch ein negativer Aspekt der Weihnachtszeit. Man hatte viel zu viele Fressattacken. Vor allem, wenn man gerade eine potentielle Todesbotschaft erhalten hatte.
„So.“ Wie jeder hochintelligente Mensch in einer beginnenden Weihnachtshorrorstory stand Morana auf und begann ihre Jacke anzuziehen. „Ich gehe jetzt in den Wald.“
Jale
4. Dezember
„...Todgeweihte...“ „...Du. Wirst. Sterben...“ „....Der Rat hat beschlossen...“
Wie ein Echo hallten diese Satzfesten in Moranas Kopf nach, während sie den Waldweg entlanglief. Wie verrückt war das aber auch? Die Fetzen einer Todesdrohung in ihren Teetassen? Jeder normale Mensch hätte vermutlich die Polizei gerufen, da außer ihr selbst niemand in Moranas Haus gewesen sein sollte. Doch Morana war anders als normale Menschen. Dass sah man schon an ihrem Weihnachtshass.
Es dämmerte schon, also machte sie sich auf den Rückweg. Es war nicht mehr weit und sie bog nach ein paar Minuten in ihre Straße ein. Wieder bei sich zu Hause angekommen, überlegte die junge Frau: Gab es irgendjemanden, der sie nicht leiden konnte? Sie fand keine Antwort auf ihre Frage, die vielleicht den Ursprung des Briefs hätte erklären können. Schließlich entschied sie sich dazu, etwas zu kochen, da sie wirklich Hunger hatte. Auf Spaghetti mit Pesto hatte Morana gerade besonders Lust. Sie holte einen Topf aus dem Schrank und - das konnte doch nicht wahr sein!
„Kann, wer auch immer hier mit mir Schnitzeljagd spielt, bitte aufhören, diese Briefpapiere in meinem Küchengeschirr zu verstecken?“, murmelte Morana, „Man kann sowas doch auch einfach irgendwo offensichtlich hinlegen, dann erschrecke ich mich nicht jedes Mal so.“ Während sie den Topf auf ihren Küchentisch stellte, betrachtete sie die vier zusammengefalteten Papiere, die sich darin befanden.
Alle waren aus dem gleichen weißen Papier, eines jedoch war aus dunklerem. Gespannt griff
Morana nach dem einen, das aus der Reihe tanzte und faltete es auseinander. Darauf stand in einer sehr schön geschwungenen Schrift in dunkelgrüner Tinte:
Der Rat hat beschlossen deine Todesstrafe aufzuheben, falls du die folgenden drei Rätsel lösen kannst. Hierbei befolge unsere Regeln!
1. Löse ein Rätsel, indem du die richtige Antwort auf die Rückseite des zum Rätsel gehörenden
Papiers schreibst!
2. Du weißt, dass deine Lösung richtig ist, wenn du anschließend das nächste Rätsel sehen kannst.
3. Versagst du, stirbst du.
Dein Schicksal liegt in deinen Händen.
„Was zur Hölle?!“ ,schrie Morana. Sie hatte doch bloß Nudeln kochen wollen und jetzt das. Am Anfang hätte das ja noch ein Spaß sein können, doch das wirkte zu ernst auf sie. Voller Neugier faltete sie den nächsten Zettel auf, doch er war leer, genauso wie der darauf folgende, doch auf dem letzten stand etwas. Mit weit aufgerissenen Augen las Morana den Text und flüsterte anschließend resigniert: „Das ist mein Ende.“
Inka
5. Dezember
In einem Versuch sich zu beruhigen machte Morana erstmal wieder Wasser heiß. Wenn sie sterben würde, dann wenigstens mit Tee. Oder vielleicht sogar Glühwein.
Während der Wasserkocher lief, las sie sich die Zettel noch einmal durch. Wer war der Rat? Und wie viel Zeit hatte sie? Was wäre, wenn sie einfach nichts machen würde? Denn mehr fiel ihr auf die schnelle nicht ein.
In dem Moment kam die Nachbarskatze aus dem Schlafzimmer raus und miaute sie laut an. Die Katze, Thana, war schon etwas älter und verbrachte den Winter gerne bei ihr, da Weihnachten auch nicht so ihr Ding war.
Wie automatisch stand Morana auf, um eine Dose Katzenfutter in einen Napf zu fühlen - in dem wiederum ein Zettel lag, helles Papier und die selbe grüne Schrift. Die steckte den Zettel in ihre Tasche, füllt den Napf und sah zu, wie Thana sich darauf stürzte. Nur dann holte sie den Zettel wieder hervor.
Beeile dich.
Mist. Sie hatte sich doch auf ein Mittagessen gefreut. Ihre Augen gingen wieder zum Rätsel. Sie könnte nicht mal Mathe-Rätsel lösen, wie sollte sie so ihr Leben retten? Der Rat hätte sich auch etwas besseres aussuchen können. Thana leckte sich die Schnauze, sprang in ihren Schoß und sah sie mit gelben Augen an.
„Was?“ fragte Morana. „Kannst du etwa Rätsel lösen?“
„Eigentlich schon,“ meinte die Katze. „Aber lesen kann ich deine Zettelchen nicht.“
Dorian
6. Dezember
Ungläubig schaute Morana das schwarze Katzentier an. ,,Du kannst reden? Und die Rätsel lösen?“
,,Ja klar“, antwortete Thana, ,,du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.“
Schweißgebadet wachte sie auf. Thana fraß zufrieden aus ihrem Napf. Sie musste eingenickt sein. Es war ein Traum, es gab keine sprechenden Katzen, die Rätsel lösen konnten. Morana schüttelte den Kopf, wie naiv sie doch war.
Sie lief wieder in die Küche, schaufelte sich eine große Portion Nudeln auf einen Teller, kippte Pesto darauf und kaum öffnete sie die Schublade des Bestecks, fuhr sie zusammen. Ein weiterer Zettel.
Sie wollte diesen Zettel nicht entfalten müssen, wollte diese schmale Schrift nicht entziffern, keine weiteren dunkelgrünen Tintenflecke sehen. Doch sie musste, um am Leben zu bleiben.
Sei gewarnt, selbst die Schlausten übersehen Dinge.
Ihre grünen Augen schlossen die Lider. Der Alptraum war noch nicht zu Ende. Es musste Fallen geben, Zeichen, weitere Rätsel. Mehr Zettel.
Sie schluckte den letzten Bissen schwer herunter. Ruhig bleiben, Zettel finden, Rätsel lösen… Das war ihr Plan.
Mit etwas mehr Hoffnung im Gewissen, zog sie ihre, inzwischen wieder trockenen, Stiefel an, warf sich die Jacke über die Schultern und versteckte ihre langen Haare in der schwarzen Mütze.
Der Schnee knirschte verräterisch unter ihren Schuhsohlen, als sie die matschige Straße entlang schlurfte. Angst, Unsicherheit, Panik… sie wusste nicht was sie fühlen sollte. Was hatte sie getan? Weshalb bekam ausgerechnet sie ein so furchtbares Schicksal? Was sollte sie tun? Fortlaufen?
Ihre Schritte wurden schneller, der Wind fegte ihr ins Gesicht, die blassen Hände kalt wie Eis.
Sie beschleunigte, rannte durch das weiße Blut unter ihren Füßen, es war als hatte es der Winter persönlich auf sie abgesehen und warf mit seinen grausam kalten Pfeilen nach ihr. Sie fluchte, schrie, versuchte ihre Wut und Angst aus ihr herauszubrüllen, rannte und rannte in die Dunkelheit, hoffend auf einen Ausweg...
Letta
7. Dezember
Nach einer gefühlten Ewigkeit verlangsamten sich ihre Schritte, bis sie schließlich mit Angst geweiteten Augen an einem Brückenpfeiler niedersank. Die Tränen, die bei ihrem verzweifeltem Wutausbruch an ihren Wangen heruntergelaufen waren, versiegten und hinterließen ein kalt brennendes Netz auf ihrer Haut.
Erst in diesem Moment realisierte Morana, dass sie weder wusste wo sie war, noch was sie nun tun sollte. Natürlich hatte sie sich verlaufen. Wie hätte es auch bei ihrer Dummheit nicht dazu kommen sollen. Wieder um einiges wütender rappelte sie sich auf, ballte ihre Fäuste und schaute sich um. Sie war scheinbar in der Nähe des nun gefrorenen Flusses, der sich durch die ganze Stadt schlängelte. Normalerweise mied sie dieses Gebiet. Zum einen, da hier eher zwielichtige Gestalten ihr Unwesen trieben und zum anderen, weil die ganzen verdammten Kinder Schlittschuh fuhren, was sie nur an ihre zum Glück vergangene Kindheit erinnerte, in der sie Weihnachten noch genauso geliebte hatte wie das Schlittschuhfahren. Bis, ja, bis ihre Mutter an Krebs gestorben war und ihr Vater dadurch depressiv geworden war. So kam es dann, dass sie ihren Vater pflegte, statt Weihnachten zu feiern oder Freunde zu finden.
Morana wischte diese Gedanken aus ihren Kopf während sie durch eine verlassene Straßenunterführung ging. Sie musste irgendetwas finden, an dem sie erkannte, in welcher Richtung das Stadtzentrum war. Ihr Handy hatte sie aus Frust ausgerechnet zu Hause vergessen.
In der Mitte der Straßenunterführung war ein Schaukasten mit Informationen von irgendwelchen Clubs in der Stadt. Vielleicht fand sie dort hilfreiche Informationen wie eine Karte, die zeigte wie man zum jeweiligen Club fand. Als sie sich gerade dem Schaukasten zuwenden wollte, flackerte das ohnehin schon zu schwache Licht der LED-Lampen und erlosch letztendlich ganz. Abrupt blieb sie stehen. Sofort schoss die Angst durch ihren ganzen Körper. In der Ferne glühten drei flackernde Kerzenlichter auf, die drei vermummte Gestalten erhellten. Morana schauderte. Die einheitliche Stimme der Gestalten dröhnte dunkel und durchdringend in ihren Ohren...
Lasse
8. Dezember
Morana rannte los. Diese Situation war viel zu surreal. Sie musste aus dieser Unterführung raus. Weg, nur weg. Das war nicht wirklich, ganz sicher alles nicht wirklich. Sie warf einen Blick hinter sich und erblickte die drei Gestalten, Jugendliche vielleicht, die ihr laut lachend und grölend entgegenkamen.
Nein, nicht ihnen näher kommen! Gab es keinen Ausweg? Dort, die Treppe! Morana bog links ab, nahm zwei Stufen auf einmal und zählte mit, jetzt wieder Schnee unter ihren Füßen. Als sie endlich oben war, rannte sie auf die Kreuzung zu, überquerte sie und wurde dreimal angehupt. Jetzt wusste sie wenigstens wieder, wo sie war.
Die Jugendlichen, die wahrscheinlich ein paar Promille zu viel gehabt hatten, hatten Morana auf dem Heimweg nicht weiter geplagt. Trotzdem brauchte sie zuhause erstmal heißen Tee. Eigentlich wollte sie entspannen und einen schlechten Film schauen, da sprang Thana die Nachbarskatze neben sie und gab ein durchdringendes Miauen von sich.
Genervt wandte Morana sich ab. Die Katze erinnerte sie nur an ihren Traum.
Thana legte ihr eine Pfote auf den Unterarm.
„Mau!“
Morana schob sie weg. „Wenn du mir nicht helfen kannst, halt die Klappe!“
„Na gut.“ Sichtlich beleidigt setzte sich die Katze auf ihren Hintern. Wurde sie von dem übermäßig vielem Katzenfutter, das Morana ihr täglich fütterte, langsam etwas dick? „Ich habe die Lösung auf das Rätsel gefunden. Und du musst mir helfen, bevor die drei Jäger auftauchen.“ Es sah aus, als würde die Katze tief Luft holen. „Dieses Haus steht an einem Übergang ins Land des Winters. Du und ich, wir sind die Wächter. Und unsere Wachschaft wird angezweifelt. Die Briefe gingen an mich. An die Todgeweihte. Thana bedeutet Tod.“
Morana schnappte nach Luft. In der Grundschule mussten sie einmal die Bedeutung ihres Namens nachschlagen. Sie hatte den Tag aus ihrem Gedächtnis verbannt und doch nie vergessen können. „Morana bedeutet auch Tod.“
„Da hast du es“, sagte die Katze.
Hannah & Frau Wagner
9. Dezember
„Da hast du es“. Die Worte der Katze hallten in Moranas Kopf wider. Nachdem sie verhallt waren blieben ihr nur noch Fragen. Viele Fragen. Ihre erste war vielleicht nicht unbedingt die klügste: „Und warum genau kannst du sprechen?“, fragte sie an die Katze gewandt. „Nun“, sagte die Katze, „das tue ich gar nicht. Und bevor du fragst“, fuhr sie fort, „du sprichst auch nicht mit mir. Wir können unsere Gedanken hören, da wir beide Wächter derselben Grenzen sind, dieser Straße.“
„Ich verstehe gar nichts mehr“, stöhnte Morana verzweifelt, „du bist Thana, die Katze meines Nachbarn und verbringst seit zwei Jahren jeden Winter bei mir."
„Lass mich dir das mit einem einfachen Beispiel erklären: Wie hast du mich benannt?“
„Thana“, sagte sie verwirrt. Was wollte diese Katze nur?
„Und… wie bist du auf diesen Namen gekommen?“ fragte Thana.
„Er ist mir einfach eingefallen…“, meinte Morana, immer noch sichtlich verwirrt.
„Falsch!“, rief Thana fast schon triumphierend, „ich hab ihn dir verraten.“
„Verraten?“, fragte Morana, einmal mehr verwirrt. „Wieso verraten?“
„Nun“, flüsterte Thana verschwörerisch und sah dabei gleichzeitig ziemlich selbstzufrieden aus, „wir beide sind Telepathen, so wie alle anderen Wächter auch.“
Evan
10. Dezember
„Wächter?“, sagte Morana sichtlich verwirrt, „Wer soll das denn sein?“
„Die Wächter bewachen die Grenze zum Land des Winters“, erklärte die Katze.
Diese Erklärung half Morana leider nicht im Geringsten weiter bei ihrem Versuch, Licht in das Dunkel ihrer aktuellen Situation zu bringen, weshalb sie prompt nachfragte: „Aber was soll denn bitte dieses Land des Winters sein?“
Thana schien nun leicht genervt ob ihrer augenscheinlichen Unwissenheit, besann sich dann jedoch doch noch darauf, es mit einer mehr oder weniger geduldigen Erklärung zu versuchen: „Das Land des Winters liegt in einer anderen Dimension, weshalb wir hier fast das ganze Jahr über sicher sind. Es gibt jedoch Risse zwischen den Dimensionen, welche in dieser Dimension nur von Wächtern gesehen und durchquert werden können.“
„Moment mal“ unterbrach Morana die Katze „du willst mir also weismachen, dass es unter meinem Haus Risse in eine andere Dimension gibt, in der immer Winter herrscht?“
Thanas Blick hellte sich sichtlich auf, da sie nun langsam doch zu begreifen schien. „Ganz genau“ lächelte Moranas neue fellige Freundin ,,und es ist die Aufgabe von uns Wächtern diese Risse im Winter vor Invasionen des Drachenlords und seiner Armee von Eisdrachen zu verteidigen.“
Morana konnte ihr Entsetzen wohl nur schlecht verbergen, da Thana direkt zu einer weiteren Erklärung ansetzte: „Die Eisdrachen können die Risse nur an Weihnachten durchqueren. Wir sind im Moment also noch sicher. Ich habe allerdings Grund zur Annahme, dass der Drachenlord dieses Jahr eine Invasion plant, um diese Dimension mit ewigem Winter zu überziehen.
Die Worte der Katze konnten Morana nur ein wenig beruhigen, aber sie war froh jetzt wenigstens Klarheit über ihre Situation zu haben. „Ich werde jetzt schlafen gehen. Gute Nacht, Thana", verabschiedete Morana sich. In dieser Nacht schlief Morana sehr schlecht. Doch trotz aller ihrer Horrorvorstellungen konnte sie sich nicht ausmalen, was sie als nächstes erwarten würde.
Samuel
11. Dezember
„Piep, Piep, Piep".
Zu diesen sanften Klängen wachte Morana am nächsten Morgen auf. Sie war froh, dass es Samstag war und sie an diesem Morgen nicht arbeiten musste. Halb hoffte sie, dass sich alles nur als Traum herausstellen würde. Diese Hoffnungen wurden tragischerweise schnell zunichte gemacht, da sie die Nachbarskatze am Fenster sah und sogleich die mittlerweile vertraute Stimme in ihrem Kopf hörte: „Guten Morgen, Morana. Worauf wartest du? Wir müssen aufbrechen!"
„Was?", erwiderte Morana zutiefst erschüttert, ,,Wohin müssen wir aufbrechen?"
Thana erwiderte mindestens genauso verwirrt: „Na in das Land des Winters natürlich. Wir müssen die Invasion des mächtigen Drachenlords verhindern."
Morana war geschockt. Wie sollte sie es schaffen, nur mit der Hilfe einer sprechenden Katze gegen eine Welt voller Drachen anzutreten? Plötzlich wurde sie von Thana in ihren Gedanken unterbrochen: ,,Na los was stehst du da so herum? Wir müssen Schaufeln holen um den Riss erreichen zu können."
Moranas Interesse war nun doch geweckt, weshalb sie zum Baumarkt ging, um eine Schaufel zu besorgen. Diese Entscheidung sollte sie später noch bereuen. Als sie vom Baumarkt mit einer Schaufel zurückkam, erlebte sie den größten Schock ihres Lebens. In ihrem ehemals gepflegten Garten klaffte ein riesiges Loch aus dem es bläulich leuchtete. Thana war nirgends zu finden. Auch nachdem Morana sie mehrmals gerufen hatte, hörte sie nicht die vertraute Stimme in ihrem Kopf. Sie beschloss sich das klaffende Loch im Boden genauer anzusehen. Als sie an den Rand des Loches herantrat sah sie, wobei es sich offensichtlich um einen Dimensionsriss handeln musste.
Nachdem Morana einige Zeit mit sich gerungen hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie sich der Katze gegenüber verantwortlich fühlte. Immerhin war sie es gewesen, die Thana allein zurückgelassen hatte. Kurzentschlossen sprang sie in den Riss und Kälte umgab sie.
Marlon
12. Dezember
Als Morana nach mehreren Minuten wieder sehen konnte, war sie entsetzt. Um sie herum war nichts als eine Wüste aus Schnee. Jedoch war sie nicht allein.
„Na endlich, wurde ja auch mal Zeit, dass du kommst“, sagte Thana leicht genervt. „Der Drachenlord hat schon genug Zeit durch deine Trödeleien gewonnen.“
In der Ferne erkannte Morana eine Art Schloss. „Das muss das Schloss des Drachenlords sein“, grübelte Morana. Aus der Ferne hörte man das Flügelschlagen der Drachen. „Ich fürchte, wie werden nicht viel Zeit haben, um unbemerkt durch das Land des Winters zu wandern.“
Doch die beiden unterschätzten die Entfernung. Auf den ersten Blick sah es aus, wie 30 Minuten zu Fuß, jedoch hatten sie sich nach mehreren Stunden kaum vorbewegt. Was den beiden erst damm auffiel, war, dass auf der rechten Seite auch eine Art Schloss sichtbar war.
„Wie hätten vielleicht geordneter an die Sache rangehen müssen. Dieses Land des Winters ist sehr kalt und wir haben kaum Proviant“, bemerkte Morana, als sie ein leichtes Hungergefühl verspürte.
„Lassen wir den Hunger aus dem Spiel. Wir müssen erst das Geheimnis des Drachenlords und des seltsamen Gebäudes nebenan lösen“, erwiderte Thana. Als die beiden näher kamen, erkannten sie, dass die Eisdrachen vorerst an der Leine waren, jedoch an speziellen Armelagern voraussichtlich für einen Kampf ausgebildet werden.
„Oh je, wie wollen wir den ohne Ausrüstung gegen den Drachenlord und seine Drachen ankommen?“, sagte Morana in verzweifeltem Ton.
„Wie müssen nur daran glauben!“, erwiderte Thana in selbstbewusstem Ton. „Wir müssen sehr vorsichtig sein, was Technik angeht. Gerüchte sagen, der Drachenlord kann V6, V8 und V12 Motoren zerlegen und wieder zusammenbauen.“
Es schien, als ob der Drachenlord nicht nur normales Eis bei sich bunkerte, sondern auch sein heißgeliebtes Mövenpick. Das könnte ein Problem für die beiden Abenteuer werden, da Mövenpick dem Drachenlord eine geheime Fähigkeit verlieh.
Fedi
13. Dezember
"Moment mal. Mövenpick? Das macht nicht wirklich viel Sinn."
"Ich kann es dir erklären, aber dann stehen wir hier noch Stunden und dafür haben wir keine Zeit."
Morana seufzte. "Die letzten Tage waren die Definition von surreal und auf meine Fragen bekomme ich nicht einmal eine Antwort, die irgendeinen Sinn ergibt."
Die beiden gingen schweigend weiter auf das Gebäude zu.
"Ich wünschte nur, ich könnte auch nur ansatzweise verstehen, was mir erzählt wird."
"Heh. Du solltest wirklich darüber nachdenken, was du dir wünschst."
Morana schaute zu Thana, aber die sah genauso verwirrt aus wie sie selbst. Sie drehte sich um und sah einen Jungen. In dem Moment holte er eine Hand aus seiner Jacke und begann zu winken.
"Du bist?"
"Unwichtig. Dein Name ist mir auch egal. Wichtig ist allerdings das Ding mit dem Drachen, weswegen ich vor einer Woche eingetrudelt wurde. Und je eher wir uns darum kümmern, desto eher kann ich nach Hause."
Nun meldete sich Thana zu Wort: "Willst du mitgehen um den Drachenlord zu besiegen?"
"Obwohl ich helfen werde, schließe ich mich ungern einer Truppe an. Das einzige das ich auch tun werde ist Unterstützung vom Rand aus anzubieten."
"Und wo willst du hin?" Morana war noch verwirrt von der Person. Er hatte ein ständiges Lächeln im Gesicht, aber seine Gestik teilte mit, dass er im Moment ganz woanders sein möchte. "Ehh. Zeit vertreiben."
Er ging auf Morana und Thana zu, blieb aber kurz vor den beiden stehen. Seine Miene änderte sich schlagartig zu einer ernsten.
„Ich schlage vor, alles was deine Katze sagt mit Vorsicht zu genießen. Du weißt nie, wann dir jemand in den Rücken fällt.“ ist alles was er leise genug flüstert, dass nur sie es versteht. Darauf lief er weiter. Während er das tat winkte er wieder ohne sich umzudrehen.
„Hoffen wir mal, dass wir uns irgendwann wiedersehen!“
Elio
14. Dezember
Thana machte einen Buckel und fauchte dem Jungen hinterher. „Hoffen wir mal, dass wir uns nicht wiedersehen“, maunzte sie. „Ich mag solche Jungtiere nicht. So“ Zufrieden leckte sie sich über die Pfoten. „und jetzt kommt die Schaufel ins Spiel.“
„Welche Schaufel?“, hakte Morana nach.
„Na die, die du im Baumarkt gekauft hast? Du hast sie doch dabei, oder?“
Die Schaufel lag noch am Dimensionsriss. Thana schien aus Moranas Gesichtsausdruck genug gelesen zu haben. „Oh man“, maute sie. „Ich hab mir all diese Mühe gemacht und du vergisst einfach die Schaufel. Weißt du, wie lange es dauert, mit diesen Krallen zu schreiben?“
„Was musst du denn bitte schön schreiben?“, schnaubte Morana nur.
Thana drehte ihr den Hintern zu.
„Hey.“ Morana packte die Katze am Nackfell und hob sie in die Luft. „Was musstest du schreiben?“
„Briefe und Rätsel“, murmelte Thana.
„Du hast diese Dinger in meinen Teetassen versteckt?“
Thana begann zu schnurren. Morana schüttelte sie. „Was sollte das, Katze?“
„Ich musste dich doch irgendwie vorbereiten. Hast du nicht gemerkt, dass die Antwort auf das Rätsel Mövenpick war?“
„Ich kann doch keine Rätsel lösen“, schrie Morana. „Ich dachte wirklich, es gibt einen Rat, der mich tötet.“
„Nicht so laut“, murmelte Thana und bedeckte die Katzenohren mit den Katzenpfoten. „Hättest du mir einfach so geglaubt, wenn ich gekommen wäre und angefangen hätte, zu reden? Du hättest dich wahrscheinlich eingewiesen.“
Morana ließ die Katze in den Schnee fallen. Unzufriedenes Mauzen.
„Ich gehe jetzt zurück.“
„Neeiiin!“ Sofort verbiss Thana sich in Moranas Hosenbein. Mit vier Krallen und einem Maul hing sie an dem Menschen. „Neiin!“, nuschelte sie durch Hosenstoff. „Du hilfst mir jetzt!“
Hannah
15. Dezember
Morana überlegte ein paar Sekunden.
Sollte ich zurückgehen? Oder soll ich Thana helfen?
Schließlich zog sie die Katze von ihrem Hosenbein und sagte: „Ich gehe wieder zurück.“
Thana blickte wütend auf Morana, drehte sich langsam weg und ließ Morana zurück.
Moranas Weg zurück war kälter und einsamer als zuvor. Sie vermisste die Nähe von Thana. Es begann stärker zu schneien, so stark dass Morana kaum noch etwas sehen konnte.
Morana fing an sich die Frage zu stellen, ob es Thana gut ging. Sie war viel verletzlicher und nicht so warm gekleidet wie sie.Sie konnte an nichts anderes denken als die Sicherheit von Thana, so dass sie allle Gedanken aus ihrem Kopf schlug und zurück zu der Katze rannte.
Morana kämpfte sich durch den Schneesturm, Stück für Stück linderte sich der Sturm und ihre Sicht wurde klarer, sodass man das Schloss klar sehen konnte. Es hatte ein riesiges Tor und die Mauern waren verziert mit Drachen und Weihnachtsschmuck.
Als Morana ihren Blick vom Schloss abwendete sah sie etwas im Schnee liegen.
Es war Thana!
Sie rannte schnell zu Thana, schneller als sie je gerannt war.
Als Morana vor Thana sich in den kalten Schnee kniete, schüttelte sie Thana leicht und rief verzweifelt:„Thana! Thana, geht es dir gut?!"
Emma
16. Dezember
„Warum sollte es mir gut gehen?“ krächzte die Stimme von Thana aus dem hilflosen Bündel, „Dadurch dass du mich verlassen hast, habe ich mein Werk nicht vollenden können. Und jetzt werde ich deinetwegen sterben, aber ich bin ja nur eine kleine Katze, nicht wahr?“
Thanas Stimme war wuterfüllt und begann Morana Angst einzujagen, so dass sie das Bündel, das mal eine Katze gewesen war angewidert von sich hielt.
„Gut, Gut… Gut, sieh halt wie du mit dieser wundervollen Lage zurechtkommst.“
Der letzte Satz war noch kaum verständlich und das Bündel erschlaffte. Ein silberner Schleier floss aus dem Bündel in Moranas Körper. Sie wusste, dass die Katze nun in ihrem Herzen weilte und ihr so beistand. Diese Tatsache erfüllte sie mit Mut und dem Bewusstsein, dass sie für die Welt verantwortlich war. Was sollte sie jetzt tun? Den Jungen aufsuchen? Diese Entscheidung wurde ihr allerdings prompt abgenommen als plötzlich die dunkle Stimme hinter ihr erklang: „ Hat es also wirklich ein Wächterlein geschafft zu meiner Burg zu kommen?“
Abrupt drehte sich Morana um und hielt ehrfürchtig die Luft an.
Auf der Mauer stand ein Monstrum von Drache, der mit seinen blauen und weißen Schuppen die Sonne reflektierte.
„Willst du etwa versuchen mich anzugreifen? Versuch es doch.“
Das Maul des Drachen bewegte sich keinen Millimeter, während er sprach, nur seine grün funkelnden Augen huschten umher. Auch die übrigen Drachen waren inzwischen von den Leinen losgelöst und kreisten über ihr in der Luft.
Der Drachenlord öffnete sein Maul und entließ einen Eisstrahl in die Freiheit, der direkt auf Morana zuhielt.
Nutze deine Kraft. Greif in dein Inneres.Die Stimme des Jungen hatte sich aus irgendeinem Grund in ihr Bewusstsein geschlichen und forderte sie nun auf irgendeine Kraft zu nutzen. Einen Versuch war es zumindest Wert, dachte Morana und griff in ihre Gedanken, die sich teilten und eine orangene Masse freigaben. Morana zerrte alles dieser Masse aus sich heraus. Kurz bevor der Eisstrahl auf ihren Körper auftraf explodierte die Orangene Masse aus ihr heraus und verlangsamte die Zeit.
Lasse
17. Dezember
Wie in Trance stand Morana da und beobachtete, wie durch den orangenen Nebel hindurch ein Eisstrahl auf sie zukam. Als seine Spitze auf die Masse traf, die direkt aus ihrem Herzen zu Dringen schien, verlangsamte er seine Geschwindigkeit.
Alles in Morana schrie danach, dass sie gefälligst ausweichen sollte, doch sie konnte sich nicht rühren. Der Pfeil aus Eis kam immer näher… und plötzlich wurde Morana in den Schnee geworfen. Der Eisstrahl ging genau an der Stelle wo sie eben noch gestanden hatte zu Boden.
Hustend und Schnee ausspuckend drehte sie sich herum und sah den seltsamen Jungen von vorher, der halb auf ihr drauf lag und sie auf den Boden drückte.
»Bist du wahnsinnig?«, schrie er sie an, wild mit den Händen gestikulierend. »Du kannst doch nicht einfach da stehen während ein Eisstrahl auf dich zukommt!«
Er rappelte sich wieder auf und blickte mit finsterem Blick auf den Drachenlord, der sich daran machte, eine weitere eisige Waffe auszuspeien.
Morana erhob sich aus dem Schnee und wollte zu Thanas Leichnam rennen, doch abermals packte der Junge sie und schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät für deine Katze. Wir müssen hier weg!«
Mit einem letzten Blick auf ihre Katze folgte Morana dem Jungen und duckte sich währenddessen unter einem weiteren Eisstrahl hinweg.
»Wie… wie habe ich grade die Zeit verlangsamt?«, keuchte Morana, während sie voran hechtete.
»Jeder Wächter hat eine besondere Gabe«, erklärte der Junge, der im Gegensatz zu Morana überhaupt nicht außer Atem war. »Als deine Katze gestorben ist, hat sie dir ihre Gabe übertragen die Zeit anzuhalten.«
»Was ist deine Gabe?«, wollte Morana wissen. »Und warum hilfst du mir jetzt, wenn du vorhin keine Lust darauf hattest? Wie heißt du überhaupt?«
»Ich komme nicht außer Puste«, erklärte der Junge. »Und ich habe eine Katzenhaarallergie… deshalb mochte ich Thana nicht. Allerdings ist sie jetzt tot, also stört mich das nicht mehr. Ich heiße Nathan.« Er warf Morana einen Seitenblick zu. »Das bedeutet auch Tod.«
Morana wollte gerade etwas erwidern, da prallte sie prompt in Nathan, der abrupt stehengeblieben war. Bevor sie etwas sagen konnte, sah Morana es selbst: Drei Gestalten mit Kapuzen und Fackeln. »Die Jäger des Drachenlords«, flüsterte Nathan entsetzt.
Julia
18. Dezember
Die drei Gestalten kamen immer näher und näher. Nathan lief weg, doch irgendeine Kraft hielt Morana zurück. Sie stand da, als wären ihre Füße am eisigen Boden festgefroren. Da, plötzlich, hörte sie eine Stimme, die sich wie Thana anhörte, in ihrem Inneren rufen. Ein Wort. Ein einziges: ,,LAUF!"
Und da löste sich die Barriere. Kurz bevor die Jäger sie erreicht hatten, machte Morana auf dem Absatz kehrt und rannte so schnell sie konnte. Sie glaubte, sie war noch nie so schnell gesprintet. Ihre Füße flogen förmlich über den Boden.
Während sie flüchtete, blickte sie auf und wagte einen kurzen Blick über die Schulter. Sie hatte die Jäger abgehängt! Niemand war weit und breit zu sehen! Aber leider auch Nathan nicht. Warum hatte er ihr eigentlich nicht geholfen? Sie verlangsamte ihr Tempo, joggte aber weiter, damit sie nicht einfror in dieser ewigen Eiswüste.
Sie dachte nach. Wenn Thana eine magische Fähigkeit gehabt hatte, die sie ihr hatte übergeben können, dann musste Morana doch als zweite Wächterin auch eine magische Fähig... Doch weiter kam sie nicht mit ihrem Gedankengang, denn der eisige Schneeboden brach plötzlich unter ihren Füßen zusammen und sie fiel.
Morana merkte nur noch, wie sie hart aufprallte und- sie lag neben ihrem Freund auf einer Couch vor einem hell erleuchteten Weihnachtsbaum in ihrer warmen Wohnung. Er hatte einen Arm um sie gelegt und streichelte sie sanft. Sachte griff sie nach seiner Hand und fuhr die feinen Linien gedankenverloren nach. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und atmete seinen vertrauten Geruch ein. Er wollte sich aufsetzen, doch dabei schon er sie unbewusst von dem Sofa und sie - wachte keuchend auf.
Sie lag in einer hell erleuchteten Höhle aus Eis. Aus Eis?! Ja aus Eis! Unter der Erde! An der glatten Wand erkannte sie eingekratzte Bilder von Drachen. Und da erinnerte sie sich, wie sie im Eis eingebrochen war. Sie musste im unterirdischen Teil der Burg des Drachenlords gelandet sein. Sie rieb sich ihren schmerzenden Kopf. Also war sie im Kreis gelaufen?
Auf einmal sah sie einen enorm großen Schatten vor sich an der Wand und hörte ein leises Fauchen hinter sich.
Das Blut gefror ihr in den Adern.
Inka & Letta
19. Dezember
Langsam drehte Morana sich um. Eigentlich hätte sie rennen sollen, aber sie wusste nicht wohin.
Auf ersten Blick entschied sie, dass dies der Drachenlord sein musste. Er war etwa so groß wie ein Elefant, und das klassische Bild eines Drachens, ein schlangenartiges Wesen mit kleinen Beinen, Flügeln und Hörnern. Der einzige Unterschied war wohl, dass er aus Eis bestand, seine Schuppen kristallisiertes Wasser waren und dass er real war.
Einen Moment lang schaute er sie nur an. Dann holte er tief Luft, und es fühlte sich so an, als ob er alle Wärme aus der Luft aussaugte um - na ja, was Drachen so Warmes eben machen. Sie wollte rennen, aber sie konnte nicht. Ihre Füße waren fest gefroren, während ihre Gedanken noch rasten.
Das Feuer, das über sie wusch, war eine angenehme Abwechslung, und fast hätte Morana sich gefreut. Gefreut darüber, dass sie ihre Füße wieder spüren konnte und etwas Farbe in ihre Hände zurückkehrte. Sie schaute sie noch einmal um. Das Eis um ihre Füßen war eine dampfende Pfütze. Sie lebte immer noch. Überrascht schaute sie denn Drachen an. In seinen Augen lag die selbe Überraschung - und Wut. Dann rannte Morana am Drachen vorbei durch ein Tor und eine Treppe, die eher einem Wasserfall ähnelte, hoch durch eine lange Halle. Fast dachte sie, sie wäre alleine, abgesehen vom Drachen, den sie jetzt hinter sich die Treppe hochsteigen hörte. (Gut, dass Treppen nicht für Drachen angelegt wurden.) Dann trat ihr plötzlich eine Kapuzengestalt in den Weg, einer der Jäger des Drachenlords. Die Gestalt stellte sich Morana in den Weg und fing sie ab. Sie versuchte sich von deren Griff an ihrem Arm zu befreien, aber vergebens. Vor drei Jahren hatte sie im Sommer an einem Selbstverteidigungskurs mitgemacht, doch alle Tricks waren im Moment der Verzweiflung verflogen. Die Gestalt drückte ihr deren Fackel in die Hand.
„Ich bin’s,“ flüsterte er. Nathan. „Komm mit, ich kenne einen Geheimgang.“
Er zog sie zur Seite der Halle, an mächtigen Säulen aus Eiszapfen vorbei und durch einen Schlitz in der Wand. Von dort aus führte eine Leiter, ins Eis gearbeitet und im Halblicht kaum zu erkennen, durch ein Loch nach unten und über eine Höhle nach oben.
Morana legte die Fackel ab machte sich bereit sich niederzulassen, aber Nathan hielt sie davon ab. „Hoch. Wir müssen noch etwas erledigen. Und nimm die Fackel mit.“
„Erklärst du mir was?“ flüsterte sie zurück. Aus der Halle kam ein wütender, verzweifelter Schrei.
„Ich habe weder Zeit noch Lust es dir in Einzelheiten zu erklären, aber wir müssen zu seinem Mövenpick Vorrat und ihn zerstören. Es wird uns helfen ihn zu besiegen. Den ewigen Winter aufzuhalten.“
Dorian
20. Dezember
„Ich bin feuerfest“, murmelte Morana. Sie hatte einmal einen Film gesehen, wo eine Frau ins Feuer lief und nicht verbrannte. Sie war auch feuerfest gewesen. Aber das war lange her.
„Jaja“, sagte Nathan und zog sie weiter. Wie konnte der Junge so selbstsicher sein?
Er zog sie in einen Raum. Morana erstarrte in der Tür. So hatte sie sich als Kind das Schlaraffenland vorgestellt: Ein Berg aus Eispackungen aller Geschmacksrichtungen. Das sollten sie zerstören? Ihre Fackeln erloschen. Ausgebrannt.
„Und wie?“, fragte Morana Nathan. Oder Thana, sie wusste es nicht genau.
„Feuer“, erklärte Nathan zufrieden.
„Eis brennt nicht.“ Hatte er denn nicht in der Schule aufgepasst?
Scheinbar zufrieden über ihren Einwurf zog Nathan eine Flasche Bratöl unter dem Mantel hervor. „Das hier aber.“ Feierlich reichte er Morana die Flasche weiter und zog eine zweite hervor. „Das verteilen wir jetzt. Überall.“
Es war erstaunlich, wie viel Öl man in einer Flasche herumtragen konnte. Noch erstaunlicher war es, wie viele Flaschen Öl Nathan mit sich herumtragen konnte. Wie lange hatte er das alles schon geplant?
Das Problem ergab sich, als das Eis bereits in Öl getränkt war und Nathan sie fragte, ob sie Streichhölzer dabei hatte.
„Oder ein Feuerzeug“, fügte er hastig hinzu. „Bei mir hat wegen dem ganzen Öl nichts mehr rein gepasst.“
Morana musste den Kopf schütteln. Und fühlte sich fast so dämlich, wie als Thana sie nach der Schaufel gefragt hatte.
„Schlecht“, sagte Nathan. Verzweiflung bereitete sich in seinem Gesicht aus. „Schlecht“, wiederholte er. Jetzt kam Traurigkeit dazu. „Oh scheiße.“ Er ließ sich gegen die Wand fallen und fing an, zu heulen.
Zwei elefantengroße Türen, die Morana bis dahin nicht beachtet hatte, schwangen auf. Der Drachenlord stampfte hinein. Als er die Eindringlinge erblickte, ließ er kurzerhand eine Flammenladung auf sie los.
Sein Eisvorrat ging in Flammen auf.
Hannah
21. Dezember
Prustend und fauchend wandte sich der Drachenlord Morana und Nathan zu. Von Nathans Haar ging ein leicht verbrannter Geruch aus, Morana selbst war natürlich unversehrt geblieben. Zitternd wichen die beiden zurück. Erst dann fiel dem Drachenlord der Verlust seines geliebten Mövenpik-Eises auf.
Heulend brach er in sich zusammen und klaubte mit seinen Pranken die Überreste der verkohlten Verpackung zusammen.
Nathan und Morana sahen sich an. Wenn es eine Chance gab, endlich von diesem irren Ort zu verschwinden, dann war sie jetzt gekommen. Wie auf ein stummes Kommando rannten sie auf die Türen zu. Mit einem Mal schien der Boden unter ihren Füßen zu beben und immer heißer zu werden.
Doch kurz bevor sie die Türen erreichten, bremste Morana ab. Mit zusammengebissenen Zähnen wanderte ihr Blick von einer zur anderen und zuletzt zum Drachenlord, der glücklicherweise noch immer in Embryonalstellung vor den Eisresten verharrte.
„Weißt du noch, aus welcher Tür der Drachenlord kam?“, fragte Morana mit Schweißperlen auf der Stirn an Nathan gewandt.
„Puh ...“ Nachdenklich kratze er sich am Kopf. „Um ehrlich zu sein habe ich gerade nur auf die gigantische Flammenwolke geachtet ...“
„Okay … Unsere Chancen stehen fifty-fifty“, überlegte Morana. „Denk nach“, murmelte sie eindringlich zu sich selbst. „Was würde das Katzenbiest tun? Wäre eine Schaufel in diesem Kontext relevant? Oder das Wissen über die Zusammensetzung irgendwelcher Motoren?“
In diesem Moment ertönte erneut ein ohrenbetäubendes Fauchen hinter ihnen. Nur knapp gelang es Nathan, den Flammen auszuweichen, die der Drachenlord unmittelbar in ihre Richtung spie.
„Lauf!“, schrie er und öffnete kurzerhand die erstbeste Tür.
Morana folgte ihm und es gelang ihnen gerade rechtzeitig, einem erneuten Feuerball zu entgehen.
Geschickt verriegelte Nathan die Tür mit irgendeinem Drahtstück, das er wohl neben Masken und angeklebten Hustenbonbons in seiner Jackentasche gefunden hatte. Einige Male warf sich der Drachenlord erbost gegen die Tür, doch dann schien er aufzugeben und sich auf die Suche nach einem neuen Mövenpick-Eis zu machen.
Langsam drehte Morana sich um. Was sich hinter der Tür verbarg, erfüllte sie zugleich mit Erleichterung und Schrecken.
Jale
22. Dezember
Die drei Jäger des Drachenlords saßen heulend am Boden.
Die drei Gestalten, die Morana in der Stadt gejagt hatten und vor denen sie sich seit Ankunft im Land des Drachenlords gefürchtet hatte, putzten sich die laufenden Nasen an grünen Seidentaschentüchern, während Tränen über ihre Gesichter liefen.
„Wir sind am Ende“, murmelte einer der Jäger. „Am Ende.“
Nathan zog ein bekümmertes Gesicht. Er zupfte Morana am Ärmel. „Wir sollten gehen.“
Wut keimte in Moranas Innerem auf. Kurzerhand griff sie nach dem Mantel eines Jägers und zog kräftig daran. „Hey! Wieso seid ihr am Ende?“
„Wir haben keinen Eisnachschub besorgt, obwohl es unser Job war“, winselte der Jäger. „Jetzt werden wir gegrillt.“
Morana kniff die Augen zusammen. „Wenn der Drachenlord tot ist, kann er euch nicht grillen.“
„Nein!“, sagte Nathan bestimmt. „Was auch immer du denkst, nein!“
„Wir haben alles für ihn getan“, murmelte der zweite Jäger. „Sogar die Katze haben wir erlegt.“
Jetzt wünschte Morana sich eine Schaufel, um so richtig fest zuzuschlagen. Angewidert stieß sie den Jäger von sich weg.
„Komm, Nathan, wir gehen!“
Die Jäger waren keine Bedrohung mehr. Sie waren nur noch ein Häufchen Elend, das sich nicht mehr wehren konnte.
„Weißt du was?“, meinte Nathan. „Ich hab keinen Bock, einen Drachen zu töten. Wir gehen zurück und versiegeln den Dimensionsriss.“
Hannah
23. Dezember
,,Nein” , schrie Morana, ,, nach allem, was passiert ist kann ich den Drachenlord nicht am Leben lassen.”
Nathan starrte sie entgeistert an: ,,Wie bitte? Du willst allein gegen den Drachenlord kämpfen? Das kann nicht dein Ernst sein! Das kannst du niemals schaffen!”
,,Du vergisst, dass ich feuerfest bin”, erwiderte Morana.
Nathan konnte nur noch den Kopf schütteln: ,, Na gut. Wie du meinst. Ich habe keine Lust mehr gegen den Drachenlord zu kämpfen. Du wirst ohne mich klarkommen müssen. Ich mache mich jetzt auf den Rückweg zum Dimensionsriss. Ich warte noch ein paar Stunden auf dich, wenn du dann nicht da bist, muss ich den Riss versiegeln.”
Ohne ein weiteres Wort drehte Morana sich um und stiefelte in Richtung Palasteingang davon. Auch Nathan hatte alles gesagt, was er zu sagen hatte und ging ohne ein weiteres Wort in Richtung Dimensionsriss davon.
Morana spähte durch die Palasttüre, um zu sehen, ob der Drachenlord wirklich gegangen war, um neues Mövenpick zu besorgen. Erleichtert atmete sie auf, als sie ihn nirgends in den weiten Gängen sehen konnte. Bevor sie ihn stellte, musste sie sich erst noch einen Plan ausdenken.
Plötzlich spürte sie einen kalten Luftzug in ihrem Nacken. Mit einem lauten Schrei machte sie einen Satz nach vorne. Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, da der Drachenlord zu einem Hieb auf ihren Kopf mit seinen scharfen Klauen angesetzt hatte. Da wurde es Morana klar: Durch seinen Jahrzehntelangen Mövenpick Konsum war der Eisdrache beeindruckend groß geworden. Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen.
Marlon, Fedi, Samuel
24. Dezember
Zeit war eine seltsame Sache.
Wieder explodierte eine orangene Masse aus Moranas Innerem und die Zeit blieb in einem orangenen Nebel stehen. Außerhalb dieses Nebels zischte der Drachenlord erzürnt. Eine seiner Krallen war im Nebel gefangen und ließ sich nur in Zeitlupe bewegen.
Er spie Feuer auf sie, doch die Flammen, die quälend langsam über Morana hinwegrollten, erwärmten lediglich ihre Kleidung. Der Drachenlord konnte ihr nichts anhaben. Und sie ihm nichts. Sie waren einander gleich.
Morana schien zu wachsen oder der Drachenlord zu schrumpfen, denn plötzlich standen sie sich Auge in Auge gegenüber.
Der Drachenlord hatte den Kopf schief gelegt, als wisse er nicht ganz, was er mit ihr anfangen sollte. Schließlich neigte er sanft den Kopf. „Wächterin.“
Morana tat es ihm nach. „Drachenlord.“
Er lächelte beinahe. „Wir sind gleich. Ein Handel wäre angemessen.“
Morana Doryu, die sich vorgenommen hatte, einen Drachen zu erlegen, hielt ihm eine Hand entgegen. „Niemand greift den anderen an.“
Ihre Hand bestand aus weicher Haut, weichem Fleisch und Knochen, die viel zu leicht brachen. Der Drachenlord hatte Pranken aus Eis und Eisen. Vorsichtig berührte er mit einer Pranke Moranas verletzliche Hand.
„Abgemacht.“
Kurz dachte Morana an Thana, die nie wieder auf ihrem Schoß schnurren würde.
Nathan wartete am Dimensionsriss auf sie.
„Bist du also doch zur Besinnung gekommen?“, fragte er.
Sie schnaubte. „Ich bin einen Handel mit dem Drachenlord eingegangen. Niemand greift den anderen an.“ Ihre Schaufel lag noch immer neben dem Riss.
„Pff“, machte Nathan beeindruckt. „Der hält sich nie dran.“
Morana zuckte nur mit den Schultern. „Versiegeln wir diesen Riss. Danach mach ich uns heiße Schokolade.“
Schneematsch lag auf viel befahrenen Straßen. Irgendwo in der Ferne brummten die Motoren der Autos. Diesmal würde sie keine Zettel in ihren Tassen finden. Auch ihr Topf würde leer sein.
Sie zog ihr Handy hervor und scrollte durch die Bilder. Auf einer Übermenge von ihnen war Thana zu sehen. Wen hätte sie auch sonst fotografieren sollen?
Nathan runzelte die Stirn. „Was machst du da?“
Morana steckte ihr Handy weg. „Nichts.“
Es war Winter, doch er würde nicht ewig sein.
Hannah
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A (Dienstag, 10 Januar 2023 07:13)
Tolle Geschichte!